Der letzte Schattenschnitzer
den Schlüssel zückte, vernahm er ein letztes Mal die scharfe Stimme de Maesters.
»Und noch etwas. Wenn es begonnen hat, nehmen Sie sich in Acht. Hier drin werden Sie dann nicht einmal Ihrem eigenen Schatten trauen können.«
Anschließend schloss er seine Augen. Der Priester sah, wie de Maesters Schatten sich von dessen Füßen löste und zur Tür hinüberfloss. Eilig folgte er ihm, den Wunsch unterdrückend, hinaus in den Altarraum zu blicken, und drehte den Schlüssel zwei Mal im Schloss herum. Dann setzte Vater Rimbaud sich in seinen Sessel und begann zu beten.
Im Inneren der Kirche, an den Seiten des Hauptschiffes, brannten moderne Halogenlampen in alten Kerzenhalterungen. Doch eine nach der anderen verdunkelte sich, als sich ein dünner Schleier schattenhafter Schwärze darüberlegte. Wenig später war es vollkommen finster. Nur das Licht des Mondes fiel noch durch die bunten Fenster, deren Bilder sich eigentümlich verzerrt auf dem groben Steinboden der Kirche abbildeten. De Maesters Schatten teilte sich auf. Kurz nachdem er die Sakristei verlassen hatte, glitten statt einem einzigen drei Schatten lautlos über den grob behauenen Stein. Sie bezogen schließlich im Dunkel neben der Eingangstür, bei der Hauptsäule und neben der Falltür, die zum Reliquiar hinabführte, Position.
De Maester spürte die Gegenwart des fremden Schattens. Spürte, wie er überall und nirgends zugleich war und wie das Dunkel der Kirche sie miteinander verband. Und doch vermischten sie sich nicht. Selbst als er bewusst versuchte, in ihn einzudringen, hielt der Neuankömmling stand. Sie umfuhren sich in der Finsternis, umschlichen sich wie Schatten von Raubkatzen, unsichtbar für die Augen der Sterblichen. Doch man konnte ihre Gegenwart spüren, und die Kirche war von einer eigentümlich bedrückenden Feindseligkeit erfüllt.
Kurz darauf begann der Schatten des Eindringlings in der Finsternis zu wachsen. Langsam wucherte er über die bunten Abbilder der Fenster am Boden, floss von Stein zu Stein, an den Säulen und Wänden empor und schließlich auch über die Fenster selbst. Es war, als ob sich Vorhänge aus undurchdringlicher Schwärze schlossen. Nun war es vollkommen finster in der Kirche von Saint Murebod, ihr Innerstes ein einziger Schatten.
»Wer bist du?«, flüsterte de Maester tonlos ins Dunkel. Doch der Eindringling antwortete nicht. Stattdessen packte er ohne jede Vorwarnung den ersten von de Maesters drei Schatten, jenen neben der Eingangstür. Der fremde Schatten kam von allen Seiten, legte sich um ihn und griff nach ihm. Obwohl er auf der Hut gewesen war, überrumpelte der Eindringling de Maester mit der Geschwindigkeit seines Angriffs. Ohne dass de Maester überhaupt zur Gegenwehr ansetzen konnte, zerriss der Angreifer den ersten seiner drei Schatten in Tausende Fetzen schillernder Finsternis. Das Dunkel des Fremden sog den zerstörten Schatten auf, schien in der Finsternis noch zu wachsen, obwohl er bereits die gesamte Kirche ausfüllte. Dann wandte er sich den verbliebenen beiden Schemen zu.
De Maester war eins mit seinem Feind, eingeschlossen im Inneren der Finsternis. Und er musste sich eingestehen, dass er dessen Kraft unterschätzt hatte. Er hatte reden wollen, verhandeln, und darüber hatte er versäumt, seine eigene Macht einzusetzen. Nun stellte er sich darauf ein, der brutalen Magie des Fremden zu trotzen. Als der Eindringling seinen zweiten Schatten zerreißen wollte, setzte de Maester sich zur Wehr. Dabei spürte er im Dunkel die Kraft und das Wissen von Jahrhunderten, das sich ihm entgegenstellte. Dieser Eindringling war womöglich älter und mächtiger als der Älteste des Rates selbst. Dem ersten Zugriff des Angreifers entrang er sich. Dem zweiten entkam er nur knapp. Doch wohin sollte er fliehen? Die Finsternis war erfüllt vom Wesen seines Feindes.
De Maester versuchte, Schattengift zu wirken. Das war einer der wenige Sprüche, mit dem ein Schatten dem anderen Schaden zufügen konnte. Doch als der Angreifer ihn packte, war das Gift noch zu schwach. Und als auch sein zweiter Schatten im Dunkel zerstob, schluckte sein Gegner das Gift, ohne Schaden zu nehmen.
Fassungslos im Angesicht der Macht seines Widersachers, sammelte de Maester seine gesamte Kraft im letzten seiner Schatten. Im Inneren der Dunkelheit bäumte er sich auf, drängte den Unbekannten zurück und entfachte die Kraft der Elemente. Er entflammte seinen Schatten mit magischem Feuer und stemmte sich mit aller Kraft gegen die ihn
Weitere Kostenlose Bücher