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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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die Möglichkeiten unendlich geworden … Es war nur der Körper eines Kindes, doch er würde schnell wachsen. Die Welt würde ihm zu Füßen liegen. Und während im Inneren des Kindes das aus zahllosen fremden Schatten zusammengestohlene Wissen des Eidolons ruhte, spürte es, wie die Synapsen im Inneren seines Schädels sich unter leisen Blitzen miteinander verknüpften, Brücken schlugen, Verbindungen eingingen … Nach fünfhundert Jahren Gefangenschaft hatte es sich das Leben eines Menschen untertan gemacht.
    Und nun befand es sich einmal mehr in der Gewalt eines Schattensprechers.
    Die Pupillen des Mädchens verengten sich, als es seinem Entführer wortlos und mit starrem Blick entgegenstarrte. Und der Tätowierte las in ihren Augen.
    »Oh ja, da bist du … Ich sehe den Schatten in ihren Augen.«
    Das Mädchen knurrte leise. Sein Entführer aber ließ sich nicht beeindrucken.
    »Leugne nicht. Und versuche nicht, mich hinzuhalten. Ich weiß, wer du bist. Und du weißt, dass ich es weiß. Du bist mir einmal entkommen. Sei dir sicher, dass es kein zweites Mal geben wird. Solltest du dich mir verweigern, wird der Körper dieses Kindes dich nicht schützen. Ich weiß, solche wie dich zu bezwingen …«
    Der falsche Schatten in ihr schauderte. Das Kind schlug die Augen nieder. Und sein Entführer lächelte triumphierend.
    »Du kannst mir nichts vormachen, Eidolon . Denn ich habe einen Verbündeten, der dich womöglich besser kennt als du dich selbst. Ich habe bewiesen, dass ich bereit bin, Opfer zu bringen. Und er hat mir dafür mein Versagen verziehen …«
    Langsam, Finger für Finger, zog er den Lederhandschuh von seiner Linken und präsentierte wie zuvor Mama Cervantes auch dem Eidolon seine eigentümliche Prothese aus Schatten. Er bewegte erst die Hand, dann ihre Finger. Er betrachtete sie mit Stolz, dann funkelte er wieder Maria an.
    »Du siehst, ich stehe mit einem im Bund, der mächtiger ist als ich oder du …«
    Das Mädchen hob den Kopf, öffnete den Mund und sprach dann mit einer Stimme, die nicht die eines dreijährigen Kindes, ja nicht einmal wirklich die eines Menschen schien. Sie klang geschlechtslos, fremd und leer, wie ein Echo, das aus einem unbeseelten Körper hallte.
    »Was wollt ihr von mir? Du und dein … Verbündeter?« Der falsche Schatten gab dem Wort einen verächtlichen Klang. »Ich habe nichts mit euresgleichen zu schaffen. Ihr habt mich geschaffen, eingesperrt. Nun aber bin ich frei. Lasst mich dieses Leben leben, und ich werde eure Geheimnisse bewahren.«
    Der Mann lachte auf und streifte beiläufig wieder seinen Handschuh über.
    »Darum geht es nicht. Du stehst zwischen Menschen und Schatten und bist einzig geschaffen worden, um eine Aufgabe zu erfüllen. Die womöglich größte überhaupt. Und wir werden dafür sorgen, dass du es auch tust.«
    Er blickte in Marias nachtschwarze Augen, zog seinen Handschuh zurecht und wandte sich ab. Bevor er jedoch wieder die Tür schloss und das Eidolon allein im Licht zurückblieb, sagte er noch in einem derart eindringlichen Ton, dass das Eidolon nicht an seinen Worten zweifelte: »Und glaube mir, nun, da der Henker des Rates dich sucht, ist dieser Raum womöglich der einzige Ort, an dem du überhaupt sicher bist …«
    Kaum dass das Eidolon wieder in seinem Kerker aus Licht gefangen war, zog sein Entführer sich schweigend zurück. Er verriegelte den Kellerraum sorgfältig, kontrollierte den summenden Generator im Gang davor und stieg dann langsam die Treppe hinauf. Von oben schlug ihm bereits die Hitze entgegen, und er spürte, wie die Kleidung beinahe sofort an seiner Haut zu kleben begann. Er hätte das Mädchen gerne anderswo versteckt, aber das Überqueren der Grenzen war zu gefährlich. Dabei hätte zu vieles schiefgehen können, und sein Meister hätte ihm nie verziehen, wenn dem Eidolon noch einmal etwas geschah. Darum hatte er sich hier unten in Mexiko, mitten in der Wüste, ein Versteck eingerichtet.
    Sein Meister würde zufrieden mit ihm sein. Alles verlief wie geplant. Und bald, wenn sich ihm alle Geheimnisse der Schatten offenbart hatten, würde er selbst zum Meister werden. Oh, wie er innerlich triumphierte. Er war dabei, jenen Weg zu beschreiten, den er schon immer hatte gehen wollen. So wie es seine Bestimmung gewesen war. Dabei wusste er selbst nicht viel über sich. Nur, dass seine Mutter ihn einst als kleines Kind ausgesetzt hatte. Ein zweijähriger Knabe mit tätowierten Armen und einem lateinischen Namen im Nacken: Cassus.

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