Der letzte Schattenschnitzer
dessen Inneren vernommen hatte. Das Eidolon. Ripley. Er hatte gespürt, was für eine Macht ihnen innewohnte, und er wollte verstehen, was dahintersteckte. Er befragte seinen Schatten, dessen Wissen jedoch plötzlich wie versiegt schien … Doch es gab noch so viele andere Fragen, auf die der Schatten Antworten besaß. Zwei Nächte lag Jonas Mandelbrodt wach und sprach mit seinem Schatten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Henker es wieder wagen würde. Vermutlich würde es ein wenig dauern, da der Vorstoß ihn geschwächt hatte. Doch Jonas hatte schmerzlich erfahren müssen, dass die Zeit der Ruhe vorbei war und jemand ihm nach dem Leben trachtete.
Ein Tag nach dem Vorfall hatten sie Argos im Garten begraben. Werner hatte das Loch geschaufelt, die Großeltern hatten von der anderen Seite des Zaunes zugeschaut und Ruth hatte ihren Sohn und Norman im Arm gehalten. Und dort, am Grab des Hundes, hatte Jonas begriffen, dass er die wenigen Freunde, die er hatte, durch seine Andersartigkeit in Gefahr brachte.
Am selben Abend erzählte sein Schatten Jonas Mandelbrodt vom Wesen des Rates, von den Häschern, die er fortan aussenden würde, und auch von Ambrì erzählte er, jenem kleinen Ort im Tessin, am Fuß des Gotthard. Dieses Dorf lag während des Winters mehrere Monate im Schatten der Berge. Es war der einzige Ort, an dem sie beide jetzt, da der Rat die Jagd auf sie eröffnet hatte, noch sicher sein würden.
Der Junge verstand, was sein Schatten ihm sagen wollte. Dass er, wenn er Norman und seine Mutter schützen wollte, fortgehen musste. Er dachte an das unbeschwerte Lachen seines Freundes, das wache Auge des treuen Argos und an seine Mutter, die ihn auf ihre Art liebte …
Schweren Herzens, aber klaren Verstandes fällte Jonas Mandelbrodt eine Entscheidung. Als er kurz darauf eingeschlafen war und ein letztes Mal friedlich in seinem Bett lag, ging unbemerkt von den Menschen ein fürchterlicher Ruck durch die Nacht. Es war beinahe so, als ob die Welt der Schatten einen Sprung bekommen hätte.
Und den Schatten Jonas Mandelbrodts durchfuhr es finster. Denn er wusste, was das zu bedeuten hatte …
Als Jonas Mandelbrodt frühmorgens seinen Rucksack packte und wenig später an der Seite seines Schattens das Haus verließ, schlief seine Mutter noch tief und fest. Er hatte ihr einen Zettel geschrieben und – bevor er die Haustür ins Schloss zog und nachdem er das Bargeld und die EC-Karte aus ihrer Börse genommen hatte – auf den Küchentisch gelegt. Darauf standen lediglich zwei Worte, die sie, insofern sie den Zettel nüchtern las, das Geld vergessen lassen würden: Danke, Mama.
Bevor er aber endgültig ging, musste Jonas noch einmal hinaus in den Garten.
Als er dann eine halbe Stunde später sein Zuhause verließ, hatte Jonas Mandelbrodt ein letztes Mal die Schatten des Querkrauts von der Sonne weggebogen. Er murmelte eine Reihe alter Zauber, die er über die Jahre von seinem Schatten gelernt hatte und die ihn vor den Blicken der anderen verbergen sollten.
Seine Flucht vor dem Rat hatte begonnen, und Jonas hoffte, dass die Schatten der Halme fortan wie alle anderen fallen würden …
An dem Abend, bevor Jonas Mandelbrodt von zu Hause fortging, lag das kleine lothringische Städtchen Saint Murebod friedlich im Licht der Abenddämmerung.
In der Ferne, zwischen den unablässig rauchenden Schloten der Stahlwerke, waren die Türme der ehrwürdigen Kathedrale von Toul zu erkennen, und mit der sinkenden Sonne drangen die Schatten der einen wie der anderen tiefer ins Land. Erst kurz vor den Stadtmauern Saint Murebods, die von wildem Wein überwuchert waren, hielten sie inne und verschmolzen mit dem sanften abendlichen Zwielicht, dessen Wesen irgendwo zwischen Licht und Schatten lag …
Auf den Bänken neben den Feldern saßen die alten Bauern beisammen, rauchten ihre Pfeifen mit billigem Tabak, tranken Rotwein aus Flaschen ohne Etiketten und lehnten sich am Ende eines arbeitsreichen Tages zurück. Sie scherzten, lachten und ließen den lieben Gott einen guten Mann sein.
Im Gegensatz zur Kathedrale von Toul wirkte die alte romanische Kirche von Saint Murebod, die sich hoch über dem Ort auf einem schroffen Felsen erhob, beinahe jämmerlich. Nicht nur ihrer Größe, sondern auch ihres Zustands wegen. Seit das Kabelfernsehen es selbst bis in das lothringische Hinterland geschafft hatte und die Busse nach Toul rund um die Uhr fuhren, war die Zahl der Kirchenbesucher immer mehr zurückgegangen. Im Winter kamen
Weitere Kostenlose Bücher