Der letzte Schattenschnitzer
etwas von dem Mädchen steckte. Ob es sich irgendwo in ihm verbarg, festsaß, wie das Eidolon in diesem Würfel aus Licht und Plastik.
Doch nichts in dem starren, schwarzen Blick des Kindes deutete darauf hin. Und ebenso gut war es möglich, dass der falsche Schatten alles Menschliche aus ihm verdrängt hatte und sein Körper bloß noch die seelenlose Marionette jener unheiligen Kreatur war.
Der Mann bückte sich, hob den leeren Teller von der Schwelle des Würfels und wandte sich ab. Das Eidolon aß selten. Es nahm gerade so viel Nahrung zu sich, dass sein menschlicher Körper keinen Schaden nahm. Sein Kerkermeister schloss die durchscheinende Tür und ging, den Teller in der Hand, zu den Gestellen mit den Glühbirnen, welche die milchig durchscheinenden Wände des Würfels unablässig beschienen. Während im Hintergrund der Generator leise summte, betrachtete er sie eingehend und tauschte schließlich routiniert eine Reihe von Lampen aus. Sie waren heiß, so dass er dafür seine behandschuhte Linke benutzte. Eine nach der anderen wechselte er aus, obwohl sein Handschuh bereits nach der fünften Lampe zu rauchen begann. Doch er schien nichts zu spüren; keine Verbrennungen davonzutragen. Nachdem er alle Fassungen überprüft hatte, trat er schließlich einen Schritt zurück und betrachtete zufrieden den leuchtenden weißen Kubus im Herzen des Kellerraumes, den Lichtkerker des Eidolons.
Danach betrat er die hölzerne Treppe und verließ über die knarrenden Stufen bedächtigen Schrittes den Keller.
Wenig später trat Cassus auf die morsche Veranda des kleinen Holzhauses. Die Nächte in der Wüste waren kühl. Kein Vergleich zur flirrenden Hitze des Tages. Er fröstelte leicht, zog seine Hosenträger zurecht und holte dann eine Zigarre aus seiner Brusttasche. Die Augen schließend, hob er sie an seine Nase und atmete tief den Geruch des Tabaks ein. Eine Santa Clara 1830, eine der beliebtesten Marken Mexikos. Während er sich die Zigarre ansteckte, betrachtete er das Haus. Es war einmal blau gewesen. Ein ähnliches Blau wie das der Caza Azul, des Hauses, in dem einst Frida Kahlo geboren worden war. Cassus schätzte die Malerin sehr, in deren teils alptraumhaften Bildern der Eingeweihte auf den ersten Blick ihre Verbindung zu den Schatten erkannte. Sie hatte die Sprache der Schatten beherrscht und für ihre Kunst ins Dunkel gelauscht. Er mochte den Gedanken, in einem ähnlichen Haus zu wohnen wie einst Frida Kahlo, auch wenn die Farbe längst von den verzogenen Brettern abgeplatzt war. Inzwischen wirkte das Haus wie ein fahles, von der mexikanischen Sonne ausgebleichtes Gerippe, und seine einstige Schönheit war allenfalls noch zu erahnen.
Aber Cassus mochte diesen Ort. Gefunden hatte er es mit Hilfe seines Meisters, des Schattens, als er die Entführung des Mädchens vorbereitet hatte. Kaum dass er es erworben hatte, hatte er begonnen, alles notdürftig selbst instand zu setzen, und hatte zuletzt den Lichtkäfig im Keller installiert. Ein sorgfältig konstruiertes Gefängnis, dessen Inneres keinen Schatten kannte. In seinem Inneren saß nun das Eidolon mitsamt des Mädchens fest, und es würde dort bleiben, solange sein Meister es wollte. Und obwohl Cassus nicht alles verstand, was sein Verbündeter mit dem Eidolon plante, wusste er doch, dass es sich lohnte, ihm zu dienen.
Schon während der Monate, in denen er hier in der Wüste den Unterschlupf für sich und das Mädchen vorbereitet hatte, hatte er Bücher und Schriften übersandt bekommen, von denen er in all den Jahren zuvor allenfalls hatte träumen können. Er stand in stetem Kontakt mit seinem Meister. Denn nun, da dieser sich seiner Treue sicher sein konnte, lehrte er Cassus all die Geheimnisse, denen er im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vergeblich nachgeeilt war.
Die Bücher, die der Unbekannte ihm ins nahe gelegene Tres Cruces schickte, waren wahre Kostbarkeiten. Folianten wie Giordano Brunos Lob der Schatten oder De Quinceys Gesandte der Nacht , die großen Werke der Schattenkunst. Sogar eines der letzten Exemplare von Ripleys Chronik der Schattenschnitzer , die lange als verschollen gegolten hatte, und eine Abschrift vom Schemenrequiem des dreifach herrlichen Hermes hatte der Meister seinem Diener zu Verfügung gestellt.
Und Cassus verschlang sie förmlich. Ein Buch nach dem anderen. Das heruntergekommene Holzhaus mitten in der mexikanischen Wüste barg inzwischen eine magische Bibliothek, die in der Welt ihresgleichen suchte. Beim
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