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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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spärlichen Licht einer alten Schreibtischlampe verglich, notierte und lernte Cassus verstehen, was im Inneren der Schatten vor sich ging. Und er beließ es nicht beim bloßen Studium der Schriften. Jeden Abend, wenn er das Mädchen versorgt und die Lampen kontrolliert hatte, trat er vor die Hütte, um das neu gewonnene Wissen zu erproben und den Schatten der Umgebung seinen Willen aufzuzwingen …
    Cassus rückte seine Brille zurecht, vergrub die Hände in den Taschen, nahm einen Zug von seiner Zigarre und zog schließlich ein Taschenmesser aus dem hölzernen Verandageländer. Er drehte sich zur Hauswand, setzte die Klinge an und ritzte eine Kerbe in das Holz. Jeden Abend tat er das. Seit über fünf Monaten schon. Ein kleines Ritual, um hier, abseits von allem und inmitten der Schatten, die Verbindung zur verstreichenden Zeit aufrechtzuerhalten. Nachdenklich betrachtete er die Kerben in der Wand. Je vier senkrechte, dann eine quer darüber gesetzt, mehr als 150 Stück. Wie viele es wohl noch werden würden, bis sein Meister ihm ein Zeichen gab …?
    Er hatte längst begriffen, dass er Teil eines großen und bedeutenden Plans war, den sein geheimnisvoller Verbündeter im Dunkel ersann. Cassus ahnte sogar, worum es bei diesem Plan ging. In Ripleys Chronik hatte er über das Eidolon gelesen und wusste darum nur allzu genau, was er dort unten im Keller zwischen den leuchtenden Plastikwänden festhielt. Es war nicht weniger als der Keim der Apokalypse, den der letzte Schattenschnitzer einst gepflanzt hatte, um Gott die Grenzen seiner Schöpfung aufzuzeigen. Der falsche Schatten war die widernatürliche Ausgeburt der dunklen Kunst des Alchemisten. Er hätte nicht existieren dürfen und war nun wie ein Kind, das in der Wildnis und unter Wölfen aufgewachsen war und seinesgleichen niemals kennengelernt hatte. Das Eidolon war abseits der Schatten geboren und aufgewachsen und wusste nicht, wie die Schatten sich verhielten. Es kannte weder ihre Gesetze noch ihre Grenzen. Doch selbst wenn es sie gekannt hätte, hätte das nichts geändert. Das Eidolon war einfach nicht geschaffen zu dienen. In dieser Andersartigkeit lag die Wurzel seiner fürchterlichen Macht. Genau darum hatte es sich das Mädchen geholt. Es hatte getan, wofür es geschaffen worden war: Es hatte die Grenze zwischen Mensch und Schatten verwischt. Das Eidolon hatte begonnen, die Schöpfung Gottes zu verderben. Und ihn hatte sein Meister ausersehen, es zu fangen, um es zu beherrschen.
    Zufrieden zog Cassus an seiner Zigarre. Inzwischen war er sich beinahe sicher, dass es Ripley selbst war, der sich hinter der anonymen Maske seines Verbündeten verbarg. Er musste es sein. Wer sonst hätte all diese Dinge wissen und in die Wege leiten können. Und dennoch hielt sein Meister sich weiterhin bedeckt. Womöglich des Rates wegen, vielleicht auch aus anderen Gründen. Für Cassus spielte es keine Rolle … Bald schon, da war er sich sicher, würde sein Verbündeter sich ihm offenbaren. Und Seite an Seite würden sie dann gleichsam Schatten wie Menschen beherrschen.
    Während Cassus auf der morschen Veranda des Hauses weiter den Zigarrenrauch in die Nachtluft blies, bemerkte er plötzlich einen streunenden Hund, der es durch eine Lücke im Zaun geschafft haben musste, aufs Gelände zu kommen. Eine krummbeinige Promenadenmischung – unmöglich zu sagen, was für Hunde daran beteiligt gewesen waren. Womöglich hatte das Tier sogar Koyotenblut in sich.
    Eine weitere Gelegenheit, seine Kraft zu erproben. Lächelnd hob Cassus die Hände aus den Taschen und begann, sachte mit Zeige- und Mittelfinger zu gestikulieren. Die Umgebung des Hauses wurde vom zitternden Licht zweier rostiger Laternen erhellt, die unruhige Schatten über das Grundstück und ein nahes verdorrtes Maisfeld warfen. Sein Blick schweifte durch das nächtliche Zwielicht. Und dann entdeckte Cassus, wonach er gesucht hatte. Zwei windschiefe Vogelscheuchen, die zwischen den braunen, umgeknickten Maisstauden standen. Allein mit Hilfe seiner knappen Gesten schnitt er ihre Schatten von ihren Füßen und befahl sie zu sich. Über die zerknickten Pflanzen glitten sie in Richtung des Hauses, durch den löchrigen Zaun und schließlich, den Befehlen ihres neuen Herrn Folge leistend, auf den streunenden Hund zu.
    Als die Schatten der Vogelscheuchen sich auf das verstörte Tier stürzten, schob Cassus seine Brille hoch und machte sich dann wie jeden Abend auf den Weg, die Bannsprüche zu kontrollieren, die das Gelände

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