Der letzte Schattenschnitzer
Ahnung. Jetzt, wo der Rat der Schatten sie beide als Anomalien verurteilt hatte. Zweifelnd blickte Mademoiselle Stiny ihn an.
»Und Sie? Als was betrachten Sie uns?«, fragte Jonas kühn.
»Vielleicht als einzige Hoffnung für unsere Zukunft.«
»Sie wollen damit sagen, dass Sie wissen, was gerade vor sich geht?«
Sie lachte leise auf. Sachte bebte das Rot ihres Kostüms, doch dabei büßte sie nichts von ihrer kühlen Eleganz ein.
»Oh ja, das weiß ich wohl. Der Rat hat seinen Henker zu dir geschickt. Ich war es übrigens, der euch im Schatten der Eiche zu Hilfe eilte. Ich habe deinen Hund sterben sehen, Jonas, und es tut mir leid. Ich weiß, wie wenige Freunde unsereiner in der Welt hat. Ich war es auch, der euren Rückzug deckte und eure Spuren in den Schatten verwischte. Und nun geleite ich euch nach Ambrì.«
Jonas musterte sie misstrauisch. Doch Erzsebet Stiny ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Stattdessen zog sie bedächtig ein kleines silbernes Feuerzeug und eine Zigarettenschachtel hervor und zündete sich schließlich eine daraus an. Sie blies den Rauch ins Abteil und atmete tief durch.
Scheu wies Jonas sie darauf hin, dass es sich um ein Nichtraucherabteil handelte, worauf sie nur entgegnete, dass sie, wenn die Regeln der Menschen sie jemals geschert hätten, nie dort angekommen wäre, wo sie heute war. Das blieb aber nicht das Einzige, was sie ihrem falschen Sohn zu offenbaren hatte: »Ich weiß schon länger von dir und deinem Schatten, mein Junge. Frag ihn. Der Tote im Kindergarten. Auch das war ich. Ich wollte euch damals schon warnen.«
Und obwohl Jonas spürte, dass diese Frau die Wahrheit sprach, fiel es ihm noch immer schwer, ihr zu vertrauen. »Aber wird man Sie denn im Rat nicht vermissen, Mademoiselle Stiny?«
»Der Rat ist erst für heute Nacht wieder einberufen. Bis dahin sollte es mir gelungen sein, euch in die Obhut des Wächters zu übergeben. Wenig später werde ich dann inmitten des Rates weilen, ohne dass jemand Verdacht schöpft. Denn die Schatten reisen schnell …«
Noch während sie sprach, setzte der Zug sich in Bewegung. Eine ältere Dame betrat das Abteil und nahm Platz. Und auch wenn sie einander noch nicht völlig trauten, beschlossen Jonas und Mademoiselle Stiny, ihr Gespräch kraft ihrer Schatten fortzuführen. Beide spürten, dass der andere zu diesem Zeitpunkt nicht bereit war, sich zu vermischen. Beide verbargen etwas. Aus Furcht, um sich zu schützen oder aber um es später womöglich doch noch zu teilen …
Jonas war wissbegierig. Und dies war seine erste Gelegenheit, aus erster Hand mehr über den Rat und das Mädchen ohne Schatten zu erfahren. Und darüber, weshalb der Rat sie beide tot sehen wollte. Er verstand die Entscheidungen des Rates nicht. Und auch dessen Aufgabe, das Gleichgewicht zu bewahren, hatte sich ihm aus den Berichten seines eigenen Schattens bisher nicht erschlossen. Mademoiselle Stiny erklärte ihm alles, so gut es ihr eben möglich war. Sie erklärte ihm, dass das Gleichgewicht zwischen Licht und Schatten über dem Leben des Einzelnen stand, erzählte von den Siegeln und dem Plan des Alchemisten. Sie erklärte ihm, dass sein Todesurteil und das des Mädchens eine rein präventive Entscheidung war. Dass es dem Rat jetzt, wo das Eidolon und der Schatten Ripleys frei waren und die Grenzen zwischen Schatten und Licht sich zu verschieben begannen, darauf ankam, so vorsichtig wie nur möglich zu sein. Und das bedeutete für den Rat, alles, was er nicht kontrollieren konnte, zu vernichten.
Nach und nach verstand Jonas die Gefahr, in der er schwebte: dass die mächtigsten Schattensprecher ihm dieses obskuren Gleichgewichtes wegen nach dem Leben trachteten.
Einige Stationen später verließ die alte Dame, die sich zu ihnen gesellt hatte, das Abteil wieder. Obwohl sie nicht sagen konnte, weshalb, hatte sie das Gefühl gehabt zu stören. Die Schatten hatten sie vertrieben und ihr Unwohlsein provoziert. Kaum, dass er und Frau Stiny wieder allein waren, sprach Jonas. Merkwürdigerweise war es ihm so angenehmer. In ihrem Schatten spürte er, dass sie etwas vor ihm verbarg. Wenn sie aber laut miteinander sprachen, konnte er sich einreden, dass sie es nicht tat.
»Könnte ich den Rat nicht überzeugen, seine Meinung zu ändern?«, fragte er besorgt.
»Dazu müsste es dir gelingen, an den Ort vorzudringen, an dem er zusammenkommt. Und das, mein Junge, ist noch keinem gewöhnlichen Menschen gelungen.«
»Vergessen Sie nicht, Mademoiselle Stiny,
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