Der letzte Schattenschnitzer
verfolgen begann. Während die Schattenschnitzer den Schatten ein eigenes Leben und einen Willen zubilligten, betrachteten diese neuen Magier die Schatten bloß als Knechte ihres Willens.
Mademoiselle Stiny erzählte Jonas davon, wie der Krieg um die Zukunft der Schatten begann und wie schließlich ein Schattenschnitzer nach dem anderen auf dem Scheiterhaufen landete und sie mitsamt ihres Schattens verbrannt wurden. Bis nur noch Ripley und der Italiener übrig waren. In seinem Versteck hatte George Ripley heimlich das Eidolon geschaffen und eine Passage in den Limbus, die Welt der Schatten, geöffnet. Um die seinen zu rächen und den Schatten ihre Freiheit wiederzugeben, selbst wenn es das Ende der Menschheit bedeutete …
Wie gebannt hing Jonas an ihren Lippen und spürte dabei nicht die seltsamen Regungen seines Schattens, der sich unter ihren Worten zu seinen Füßen wie vor Schmerzen krümmte.
Bevor Ripley seinen Plan verwirklichen konnte, so berichtete Mademoiselle Stiny, war er verraten worden. Der Henker des Rates schickte seinen Schatten aus, um den Alchemisten ein für alle Mal zu vernichten. Schlussendlich gelang es ihm, wenn auch für einen hohen Preis. Der Rat schloss den Durchgang zum Limbus und sicherte ihn mit fünf mächtigen Siegeln. Dann ließ er Ripley hinrichten und verbarg schließlich den Schatten des Alchemisten, mit all dem Wissen Ripleys, an einem sicheren Ort. Das Eidolon aber, so beendete Erzsebet Stiny ihre Erzählung, hatte der Rat nicht in die Finger bekommen. Denn das hatte Ripley zuvor in Sicherheit bringen können …
Jonas schauderte, sein Schatten beruhigte sich allmählich wieder, und bald schon veränderten sich die Hügel vor den Fenstern. Mehr und mehr Berge begannen sich aufzutürmen. Kurze Zeit später kam auch schon Ambrì in Sicht.
Mademoiselle Stiny schaute aus dem Fenster und nickte zufrieden.
»Dort wirst du sicher sein.« Und nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Zumindest bis der Rat die alten Regeln zu brechen beschließt …«
Bestürzt blickte Jonas sie an: »Aber warum sollte er das tun?«
»Sie wissen, woher ihr kommt. Und sie ahnen, wohin ihr wollt. Die Schatten sind in Bewegung, mein Junge. Und auch du spürst es. Gestern erst wurde eines der Siegel gebrochen. Und mit jedem weiteren, das zerstört wird, schwindet das Gleichgewicht, und mit ihm auch die Macht des Rates. Alles ist dabei, sich zu verändern, Jonas. Sie werden dich nicht in Ruhe lassen. Auch dort nicht. Es sind nicht bloß Schatten, die ihnen dienen. Und sie werden alles ins Feld führen, um die Geschehnisse aufzuhalten, in denen auch du deine Rolle noch wirst spielen müssen …«
»Meine Rolle?«
»Ich darf dir nicht alles verraten, Jonas. Und auch ich weiß nicht alles darüber. Ich weiß nur, dass ich es nicht zulassen darf, dass die Mitglieder des Rates in ihrer blinden Furcht dich und das Mädchen töten. Es wird Zeit brauchen, bis du deine Rolle erkennst. Aber dann wirst du tun, was richtig ist. Davon bin ich überzeugt …«
Der Zug hielt. Und spätestens in diesem Moment wurde Jonas klar, dass Mademoiselle Stiny nicht mit aussteigen würde. Stattdessen wies sie mit einer eleganten Bewegung ihres Armes aus dem Fenster und auf die Straße, die sich mitten durch den Ort und in die Berge emporwand.
»Dort oben wirst du ihn finden. Nun geh und sorge dich nicht weiter. Für den Moment bist du hier in Sicherheit.«
Sie nahm ihn in den Arm und gab ihm ein Gefühl von Nähe, das er bei seiner Mutter immer vermisst hatte. Dann schulterte Jonas seinen Rucksack und verließ eilig das Abteil, bevor der Zug sich wieder in Bewegung setzte.
Als Jonas kurz darauf den alten Bahnhof von Ambrì verließ, eröffnete sich ihm der Blick auf den kleinen Ort am Fuß der Berge. Durch die Mitte des Dorfes wand sich zwischen den Häusern hindurch jene Straße, die ihn in die Berge und zur Hütte des Wächters führen würde. Und von eben dort sah er nun jemanden auf sich zukommen. Leichtfüßigen Schrittes kam ihm die hochgewachsene Gestalt eines Mannes entgegen. Das Weiß seiner Haare leuchtete in der Sonne, und schon aus der Ferne ließen die Falten in seinem Gesicht ein geradezu biblisches Alter erahnen. Der strenge Blick des Mannes war auf Jonas gerichtet, und bei seinem Anblick überkam den Jungen ein merkwürdiges Gefühl von Sicherheit.
Während der Alte langsam näher kam, schaute Jonas sich um. Sowohl er als auch sein Schatten staunten über das, was sie in diesem Ort spürten und
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