Der letzte Schattenschnitzer
Bemerkenswerteste an ihr war jedoch ihr Schatten, mit dem sich der von Jonas Mandelbrodt, so sehr er es auch versuchte, einfach nicht vermischen konnte. Und das bedeutete, dass diese Frau keine gewöhnliche Frau war. Sie musste Kenntnis von den Gesetzen der Schatten haben. Das bedeutete wiederum, dass es unwahrscheinlich war, dass sie Jonas Mandelbrodt aus reiner Nächstenliebe half. Wer immer sie war, sie stellte einen Teil dieses undurchschaubaren Spiels aus Dunkel dar, in das der Junge und sein Schatten sich mehr und mehr verstrickten. Zugleich aber war sie Jonas Mandelbrodts Chance, mit dem nächsten Zug nach Ambrì zu gelangen, um sich dort in Sicherheit zu bringen.
Die Frau trat näher, setzte ihre Sonnenbrille ab und blickte Jonas fragend an. Der verstand ohne ein weiteres Wort und umarmte die Fremde kurz, aber innig. Und dann sprach er und wählte dabei die Sprache, die sein Schatten ihn gelehrt hatte. »Die Dame hinter dem Schalter, liebe Mutter, war der Meinung, dass sie die Angelegenheit lieber mit dir persönlich klären würde.«
Mit diesen Worten ließ er seine vermeintliche Mutter an den Schalter treten, wo sich die Bahnmitarbeiterin eilig daranmachte, die Fahrkarten für sie und ihren Sohn auszudrucken.
Nun, ich ahnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wer oder was es war, das mich und meinen Herrn in diesem Moment vor der Einfalt eurer Bürokratie rettete. Die Frau war mir fremd, ihr Schatten mir ein Rätsel, das sich vor mir verschloss. Ich ahnte die Macht in ihm, mehr aber ließ er mich nicht erkennen. Und als wir kurz darauf Seite an Seite den Zug Richtung Schweiz bestiegen, gewahrte ich noch etwas anderes an ihm, das er zuvor irgendwie hatte verbergen können: Der Schatten war verwundet!
Ich konnte mich nicht entsinnen, jemals zuvor dieses seltenen Zustands eines Schattens selbst ansichtig geworden zu sein. Es braucht viel, einen Schatten zu verletzen – ohne Magie war es schlichtweg unmöglich. Dieser hier aber hatte einen klaren Schnitt in seiner rechten Seite, durch den sacht das Licht der Zugbeleuchtung hindurchschimmerte. Es machte mich misstrauisch, und so warnte ich meinen Herrn. Denn auch wenn sie uns in diesem Moment helfen mochte, konnte doch die Tatsache, dass ihr Schatten von einem Magier verwundet worden war, nichts Gutes bedeuten …
Als er die Warnung vernahm, versuchte Jonas zunächst, sich nichts anmerken zu lassen und sein Wissen vor dem Schatten der Fremden zu verbergen. Doch es gelang ihm nicht. Während sie sich an den Tisch in ihrem Abteil setzten, schaute die Frau Jonas ernst an.
»Dein Schatten hat recht. Ich weiß von all diesen Dingen, die auch dir bekannt sind. Und tatsächlich wurde ich von einem anderen Wissenden verwundet.«
»Sie haben in meinem Schatten gelesen?« Verwundert erwiderte Jonas ihren Blick, und sie lächelte ihn beruhigend an.
»Nur ein wenig. Er wusste nicht, dass es mehr braucht, sich vor mir zu verbergen.«
Jonas schwieg einen Augenblick, starrte zu Boden und beobachtete, wie sein Schatten noch immer erfolglos in den ihren zu dringen versuchte. Wenn es ihr gelungen war, in seinem Schatten zu lesen, dann musste diese Frau wirklich mächtig sein.
Er hob den Blick und betrachtete sie genauer. Nun sah er, wie die Schatten im Ausschnitt ihres roten Kostüms sich auf der nackten Haut ihres Dekolletés bewegten. Sie bildeten ein filigranes Muster, wie eine Tätowierung aus Schatten, das ihn staunen ließ.
»Wer sind Sie?«, fragte er, den Blick nunmehr auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie lächelte noch immer und setzte schließlich, während sie antwortete, langsam ihre Sonnenbrille ab, so dass er in ihre eisgrauen Augen blicken konnte.
»Ich, mein Junge, bin Mademoiselle Stiny, Erzsebet Stiny. Ein Mitglied jenes Rates, der kürzlich deinen Tod beschlossen hat. Ich muss allerdings gestehen, dass ich im Moment lieber kein Ratsmitglied wäre, denn er hat nicht nur beschlossen, dich, sondern auch das kleine mexikanische Mädchen aus dem Weg zu räumen. Er betrachtet euch lediglich als Anomalien, womit er es sich meines Erachtens jedoch ein wenig einfach macht.«
Das kleine mexikanische Mädchen … In Jonas’ Brust zog sich etwas zusammen. Maria. Es war inzwischen so viel geschehen, dass er sie beinahe vergessen hatte. Nun aber erinnerte er sich: Wie er das Kind im Fernsehen gesehen und damals schon gespürt hatte, dass dieses traurige Geschöpf ohne Schatten, diese Laune der Natur, eine Seelenverwandte war. Nun bewahrheitete sich diese
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