Der letzte Schattenschnitzer
schließlich an der Reihe war, runzelte sie die Stirn. Schnell mischte sich Jonas’ Schatten mit dem der Bahnangestellten, und kaum dass er ihn erspürt hatte und zu kennen glaubte, riet er dem Jungen, es bei ihr auf die höflich distanzierte Art zu versuchen und das Bild eines gebildeten, wohlerzogenen Kindes abzugeben. Und Jonas bemühte sich redlich. Er, der stets mehr geschwiegen denn gesprochen hatte, gebrauchte so gewählte Worte, dass seine Mutter sich vor ihrem Sohn erschreckt hätte: »Guten Tag, ich würde gern eine Fahrkarte nach Ambrì in der Schweiz erwerben.«
Die Frau setzte ihre Brille auf, die an einer dünnen Perlenschnur vor ihrer uniformierten Brust baumelte.
»Na, willst du denn allein verreisen, mein Junge?«
Jonas und sein Schatten spürten das Problem, noch bevor sie die Frage überhaupt gestellt hatte: Regeln. Die Vorschriften, die ihr persönlicher Katechismus waren und denen zuwiderzuhandeln für sie vollkommen undenkbar gewesen wäre. Selbst noch in ihrem Schatten waren diese Regeln nachzulesen …
Jonas musste die Wahrheit ein wenig beugen, um sein Ziel zu erreichen.
»Meine Mutter ist nur noch schnell etwas einkaufen gegangen. Sie bat mich, derweil schon einmal meine Fahrkarte zu kaufen.«
Er lächelte unbeholfen und zählte ein paar Geldscheine auf den Tresen. Doch er spürte, dass gegen diese Uniform kein Argument der Welt bestehen konnte.
»Tut mir leid, Kleiner, aber das geht leider nicht. Du darfst nämlich nicht allein fahren. Und darum kann ich dir das Ticket so auch nicht verkaufen. Lass uns doch einfach auf deine Mutter warten. Dann kann sie das selbst übernehmen, hm?«
Jonas biss sich auf die Lippe. Er ärgerte sich. Er hätte ihr seine Macht zeigen, ihren Schatten unter seinen Willen zwingen können. Aber sein eigener Schatten hatte ihn gelehrt, nicht aufzufallen. Besonders jetzt, wo sie hinter ihm her waren. Wann immer er versuchte, Schattenmagie zu wirken, würde der Rat es spüren. Er würde wissen, wo Jonas sich befand, und er würde seine Hunde auf ihn ansetzen.
Es gab natürlich auch noch andere Möglichkeiten, unauffällig mit der Bahn nach Ambrì zu gelangen. Jonas hätte eine Vollmacht fälschen können, das Ticket online in einem Internet-Café ausdrucken oder mit einem der Bummelzüge in die nächst größere Stadt fahren können, wo die Automaten gewiss funktionierten. Oder er hätte irgendeine Frau dafür bezahlen können, dass sie sich hier am Schalter für seine Mutter ausgab. Aber all das kostete Zeit und schuf Komplikationen. Jonas wollte unauffällig bleiben, sich wie ein Junge seines Alters benehmen.
Unterdessen war sein Schatten tief in den der Frau am Schalter gedrungen. Auf der Suche nach irgendetwas, mit dem sie sie zum Einlenken bewegen konnten. Vergebens. Ihr Leben schien komplett aus Regeln und deren Einhaltung zu bestehen. Unschlüssig stand Jonas vor dem Schalter, überlegte kurz, ob er es noch einmal an einem anderen wagen sollte, und unternahm, obwohl er das Ergebnis bereits ahnte, schließlich noch einen weiteren Vorstoß.
»Ich bitte Sie, wäre es nicht vielleicht möglich, in diesem Fall eine Ausnahme zu machen? Wissen Sie, wir sind sehr in Eile, meine Mutter und ich. Meinem Onkel in der Schweiz geht es nicht gut, und es steht zu befürchten …«
Dieses Mal aber ließ die Bahnangestellte ihn nicht einmal ausreden. »Es tut mir wirklich leid, mein Junge, aber an diesem Schalter werden keine Ausnahmen gemacht.«
Mit nahezu allem Wissen der Welt und der Fähigkeit, wahrhaft Unglaubliches zu vollbringen, drohte Jonas Mandelbrodt an einem Bahnschalter zu scheitern und durfte sich dabei all seiner Macht nicht bedienen, um nicht aufzufallen.
Schon wollte die Frau hinter dem Tresen sich ihrem nächsten Kunden zuwenden, und Jonas stand bereits im Begriff, mit hängendem Kopf beiseitezutreten, als hinter ihm unverwandt die Stimme einer Frau ertönte: »Jonas! Mein Junge, da bist du ja. Du kannst doch deine Mutter nicht so lange warten lassen, Schatz. Hast du denn unsere Fahrkarten noch nicht bekommen? Na los, jetzt beeil dich aber, unser Zug fährt gleich ein!«
Die Frau, die zu dieser Stimme gehörte, war elegant, hochgewachsen, mittleren Alters und nicht die Mutter von Jonas Mandelbrodt. Sie trug ein dunkelrotes Kostüm aus leichtem Stoff, eine Sonnenbrille und einen Hut, unter dem ihr langes schwarzes Haar hervorquoll. Ihr Auftreten hatte etwas Bestimmtes, so, als ob man ihr einfach nichts entgegensetzen könnte.
Das
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