Der letzte Schattenschnitzer
dass mein Problem ja gerade darin besteht, kein gewöhnlicher Mensch zu sein«, gab er weise zu bedenken und funkelte sie an.
Die Angesprochene nickte lächelnd, und Jonas errötete leicht. Doch schnell fing er sich wieder und versuchte, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
»Ihr Schatten hat eine Verletzung davongetragen?«
Mademoiselle Stiny zeigte sich erstaunt.
»Du hast es bemerkt? Dabei dachte ich, es wäre mir gelungen, sie zu kaschieren.«
»Nicht gut genug, Mademoiselle. Ich und mein Schatten sind wachsam.«
Kaum dass er das aussprach, zeigte sie ihren Schatten her.
»Es war ein bedauerlicher Unfall. Und leider heilen diese Wunden nicht von selbst.«
In diesem Moment meldete sich Jonas’ Schatten zu Wort und flüsterte seinem Herrn etwas zu. Der zögerte kurz, doch dann hellte sein Miene sich auf.
»Ich könnte Ihnen vielleicht helfen. Wenn ich darf …«
Und dann machte er sich ans Werk, rutschte vom Sitz und kniete sich über ihren Schatten. Er sprach die Worte und vollführte die Gesten, die sein eigener Schatten ihm eingab. Er berührte den ihren, fuhr über den Riss, immer wieder, Worte aus einer vergessenen Sprache murmelnd. Unter seinen Fingern schloss sich langsam die eigentümliche Wunde.
Zufrieden betrachtete Mademoiselle Stiny ihren Schatten. Jonas schaute zu ihr empor, und wieder errötete er leicht.
»Du bist ein kluger Junge, Jonas. Doch nimm dich in Acht, du solltest die Sprache eines Kindes nutzen, wenn du mit gewöhnlichen Menschen sprichst. Auch wenn du lange schon kein Kind mehr bist. Mit Hilfe deines Schattens wirst du bald schon in der Lage sein, Dinge zu tun, die die Welt verändern können. Aber nun lass mich dir auch ein wenig helfen.«
Sie kniete sich zu ihm auf den Boden, griff nun ihrerseits nach seinem Schatten und wisperte Beschwörungen, die sich wohltuend über diesen legten. Scheinbar mühelos ließ sie den Teil, den die Fänge des Henkers aus ihm herausgerissen hatten, nachwachsen.
Anschließend sprach sie weiter: »Ich weiß, dass dein Schatten dich Dinge gelehrt hat, von denen die meisten Menschen nicht einmal etwas ahnen. Und ich weiß auch, dass du ebendieser Dinge wegen in deinem Inneren lange schon nicht mehr das Kind bist, das du zu sein scheinst … Und darum werde ich dich auch nicht wie eines behandeln. Dir, Jonas Mandelbrodt, steht eine gefahrvolle Zeit bevor. Die Hoffnung, den Rat umzustimmen, solltest du begraben. Wann immer er dich wittern wird, werden seine Schergen, Schatten und Söldner dich jagen. Vor allem aber wird der Henker dir auf den Fersen sein. Und er würde dich mit besonderem Vergnügen zur Strecke bringen, weil er ahnt, dass auch deine Existenz mit dem Alchemisten Ripley verbunden ist, dem er einst bittere Rache schwor.«
Mit dieser Aussage wollte Jonas sich nicht zufriedengeben und hakte noch einmal nach: »Aber wer ist dieser Henker? Für einen kurzen Moment habe ich ihn gespürt. In unserem Garten. Und da war so viel Zorn, so viel Wut in ihm …«
Erzsebet Stiny blickte ihn nachdenklich an. Als dächte sie darüber nach, ob er bereit war für das, was sie über den Henker wusste.
»Er hat eine lange und sonderbare Geschichte. Er ist, oder besser gesagt, er war einmal Robert la Bourge, ein Dominikaner, der während des 13. Jahrhunderts im Dienste der Inquisition stand. Damals schon nannte man ihn den Ketzerhammer. Er war grausam und hatte bald schon mehr Menschenleben auf dem Gewissen, als selbst die Kirche dulden konnte. Zu lebenslanger Kerkerhaft verurteilt, erlernte er im Dunkel seines Verlieses die Geheimnisse der Schatten. Er überwand die Sterblichkeit und wurde so auch für andere wertvoll. Die Schattensprecher befreiten ihn und nahmen ihn in ihren Dienst.
Fortan wirkte le Bourge in seiner Grausamkeit für jene, die geschworen hatten, das Gleichgewicht zu bewahren. Bis schließlich Papst Sixtus IV. sich im 15. Jahrhundert dem Rat der Schatten zuwandte und die Inquisition neu begründete. Denn auch ihm lag das Gleichgewicht am Herzen, und auch ihm waren zahlreiche Magier und Alchemisten im Weg. Le Bourge war es, der schließlich Ripley stellte, bevor das Eidolon seinen Weg in die Schatten fand. Während ihre Schatten miteinander rangen, hatte Ripley aber den Ort ausfindig gemacht, an dem sich der Körper des Inquisitors verbarg. Sein Helfer, der Italiener, brachte ihn um und beraubte so den Schatten Le Bourges seines Körpers. Der Ketzerhammer starb in der gleichen Nacht, in der es dem Rat gelang, den
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