Der letzte Schattenschnitzer
Schatten des Alchemisten einzukerkern. Doch Le Bourge war ein viel zu kostbares Werkzeug, als dass der Rat auf ihn verzichtet hätte. Und so gaben sie ihm einen neuen Körper, in den sein Schatten zurückkehren konnte …«
»Einen neuen Körper?« Jonas runzelte die Stirn.
»Er musste schnell gefunden werden. Doch le Bourge hatte genügend Alchemisten auf den Scheiterhaufen gebracht, so dass der Rat auch ihre größten Geheimnisse kannte. Und während Ripley das Eidolon extrahiert hatte, war es einem Zunftgenossen von ihm gelungen, den Homunkulus zu erschaffen. Aufgrund der sonderbaren Fügungen des Schicksals bekam jene seelenlose künstliche Kreatur in dieser Nacht eine Seele.«
»Dieser Robert le Bourge fuhr also in den Leib des künstlichen Menschen?«
»In den Körper einer Kreatur, die ihm durch und durch verhasst war. Doch seine Seele wohnte dem Homunkulus nicht lange inne. Bald wählte er sich eine andere künstliche Form. Doch den Verlust seines menschlichen Körpers hat er nie verwunden.«
»Das erklärt die Wut, die ich in ihm spürte …« Jonas nickte nachdenklich.
»Sie ist seine Kraft, Jonas, und der Rat macht sie sich zunutze, um seine Feinde auszuschalten. Doch das, was von le Bourge geblieben ist, ist mehr als bloß eine zornige Seele. Er ist ein Schattenfresser. Einer jener unheiligen Magier, die längst ausgerottet sein sollten. Und das macht ihn unberechenbar. Er wird deinen Schatten verschlingen wollen. Deswegen bist du in diesem Moment auf dem Weg zu dem einzigen Ort, an dem du vor ihm sicher bist – eine Zeitlang zumindest.«
Jonas verstand diese Andeutung. Er war ein aufmerksamer Zuhörer. Und er merkte sich die Dinge, die ihm bedeutsam erschienen. »Ambrì, die Heimstatt des Wächters.«
»Dein Schatten berichtete dir davon?«
»Nur wenig. Bloß, dass der Wächter der Schatten eines Engels ist und die letzte Spur Gottes auf Erden. Er ist der Einzige, der über dem Rat steht. In seiner Zuflucht kann Magie nur gewirkt werden, wenn er es zulässt.«
»Mehr musst du nicht wissen über jenen Ort.«
In den folgenden Stunden der Fahrt näherten ihre Schatten sich weiter an, teilten Wissen und Erfahrung und bewahrten doch noch immer ihre Geheimnisse voreinander. Doch tat es Jonas gut, einen Menschen zu treffen, mit dem er sich austauschen konnte und vor dem er seine Fähigkeiten nicht verbergen musste. Sie sprachen miteinander, ihre Schatten ebenso wie sie selbst, und die Stunden vergingen wie im Flug.
Bis Jonas die Frage stellte, die ihm im Gemüt brannte, seit er wusste, wen er hier vor sich hatte. Denn seit dem Angriff ließ der Gedanke an jene Namen, die er im Dunkel des Henkers gespürt hatte, nicht los: George Ripley und das Eidolon. Und die Tatsache, dass sein eigener Schatten ihm so wenig über diese Dinge hatte verraten können, half nicht, ihn zu beruhigen. Obwohl Mademoiselle Stiny beide Namen in ihrer Geschichte über den Henker erwähnt hatte, hatte Jonas noch nicht direkt nach ihnen zu fragen gewagt. Nun aber hakte er nach.
»Würden Sie mir noch eine weitere Frage erlauben?«
»Natürlich, mein Junge. Ich bin schließlich hier, um dir zu helfen. Was immer du auch brauchst.«
»Wer ist George Ripley?«
Mademoiselle Stiny stutzte. Die Schatten in ihrem Dekolleté schienen einen kurzen Augenblick lang zu erstarren, und sie schaute Jonas verwundert an.
»Aber hat dir denn dein Schatten nichts über ihn erzählt?«
»Weder über ihn noch dieses Eidolon.«
Sie legte die Stirn in Falten, wandt den Kopf zum Fenster und blickte nachdenklich hinaus.
»Dann ist es schlimmer, als ich dachte.« Sie grübelte einen kurzen Augenblick, dann schaute sie Jonas ernst an. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Das Wichtigste kannst du auch von mir erfahren …«
In knappen Worten erzählte Erzsebet Stiny Jonas Mandelbrodt die Geschichte George Ripleys. Wie er unter den Alchemisten seiner Zeit hervorstach, ein ambitionierter Mann, der der Magie wie auch den Wissenschaften zugetan war. Wie er Aufnahme gefunden hatte in die Reihen der Schattenschnitzer, der Bewahrer der alten chaldäischen Schule der Schattenmagie. Und wie er mit ihrer Hilfe nach dem ewigen Leben zu forschen begonnen hat. Mit offenem Mund staunte Jonas, während Mademoiselle Stiny ihm von den Intrigen vergangener Jahrhunderte erzählte.
Wie George Ripley und die Schattenschnitzer ausgerottet wurden, als eine neue Schule der Magie sich mit der katholischen Kirche verband und der Rat die Bewahrer des alten Wissens zu
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