Der letzte Schattenschnitzer
dunklen matten Augen nach. In Jonas Mandelbrodts Innerem brodelte eine Mischung aus Furcht und Neugier. So betrat er, gefolgt von seinem Schatten und dem Blick des alten Malachias, vorsichtig die Heimstatt des Wächters.
»Sei willkommen. Hier, an dem Ort, der dir bestimmt ist. Von wo aus du die Welt der Schatten und der Menschen entdecken wirst und wo sich am Ende alles entscheidet. Tritt ein, Jonas Mandelbrodt, und nimm an, wofür du geboren wurdest.«
Ein weiteres Mal sammelten sich die Mitglieder des Rates unten in der Höhle am Ende der Welt. Seit der Schatten begonnen hatte, den Jungen zu lehren, und das Eidolon entkommen war, war viel Zeit vergangen. Doch kein Ereignis in diesen Jahren hatte es nötig gemacht, so kurzfristig zusammenzukommen wie an diesem Tag. Sie alle hatten den Ruck gespürt, der durch die Schatten gegangen war. Sie wussten, dass das erste Siegel gebrochen worden und das Gleichgewicht ins Wanken geraten war. Heute würde der Bewahrer des Siegels von Saint Murebod im Angesicht der Seinen sein Versagen eingestehen und ihnen berichten, was in der Kirche vorgefallen war. Wer es war, der sich ihnen und der Ordnung der Dinge entgegenstellte.
Kaum dass die Finsternis im Inneren der Höhle sie alle aufgenommen hatte, erhob der Scharfzüngige das Wort. De Maesters Schatten klang geschwächt, seine Kraft schien gebrochen. Er hatte seinen schwarzen Glanz verloren, und nur langsam gewann er inmitten des Rates wieder an Kraft.
»Er drang in die Kirche wie ein Sturm, wusste, wo das Siegel sich befand, und er zwang mich zuzusehen, wie er es brach …«
»Hat er sich zu erkennen geben?«, wollte der Alte wissen.
»Oh, nein. Er hielt sich verschlossen und zerriss zwei meiner Schatten, bevor ich ihn auch nur im Ansatz verletzen konnte. Und alles, was er davontrug, war eine Wunde in seiner Flanke. Aber für einen, der zu sehen vermag, ist er an dieser Wunde zu erkennen.«
»Womöglich hat er sich inzwischen geheilt«, gab der Schatten Mademoiselle Stinys zu bedenken, wohl wissend, dass dem tatsächlich so war. Sie spürte noch immer die Kräfte Jonas Mandelbrodts, welche die Wunde geschlossen hatten.
»Es ist kein verlässliches Merkmal …«, gab der Zyniker zu bedenken.
»Warum hat er dich nicht getötet?«, erklang nun die Stimme des Henkers in ihrer Mitte.
»Ich spürte seine Macht. Glaubt mir, er muss uns nicht töten, um uns zu besiegen. Es geht ihm nur um den Plan des Alchemisten. Er will das Eidolon seiner Bestimmung zuführen und Gott herausfordern. Nicht uns.« Die Stimme des Scharfzüngigen klang noch immer schwach im Dunkel.
»Mir wäre wohler, wenn wir wüssten, wer es ist«, ließ der Alte verlauten.
»Alles spricht für Ripley, der sich einen Wirt gesucht hat. Einen Menschen, der ihn beherbergt und den er beherrscht«, ergänzte mit bitterer Wut in der Stimme der Henker.
»Oder für den Italiener, der ihm den Weg ebnet, während er selbst sich irgendwo im Dunkel verbirgt …«, wandte der Zyniker leise ein.
»Was nun?«, wollte Stinys Schatten wissen.
Der Alte hatte diese Frage erwartet. Und nicht einmal er selbst erachtete seine Antwort in diesem Moment als zufriedenstellend. »Wir können nicht mehr tun, als die Siegel zu schützen. Jeder das seine. Und hoffen, dass einer von uns ihn aufhalten kann.«
»Vielleicht hat er eine Schwachstelle«, wisperte de Maester.
»Vielleicht aber auch nicht«, meinte die Mademoiselle Stiny.
»Was ist mit diesem Jungen, dem Schattenschüler?«, richtete der Zyniker das Wort an den Henker, dessen Antwort nur zögerlich durch das Dunkel klang.
»Er ist entkommen. Doch nur, weil er Hilfe hatte. Ich fürchte, unser Gegner war auch hier anwesend. Ich war heute noch einmal dort, um meine Aufgabe zu vollenden, der Junge aber war fort. Ich habe in seiner Mutter und seinem Freund gelesen, doch sie wussten von nichts. Und es fand sich keine Spur von ihm in den Schatten. Irgendjemand hat seine Spuren verwischt und den Jungen getarnt. Jemand, der genau wusste, was er tat.«
»Ambrì. Er muss nach Ambrì geflohen sein!«, rief der Scharfzüngige matt aus.
»Und dieses Mädchen? Was ist mit ihr?«, drängte der Zyniker zu erfahren.
»Sie ist ebenfalls verschwunden«, wusste der Älteste zu berichten, »versteckt von einem Menschen. Weit weniger mächtig als der unbekannte Schatten, aber ein Eingeweihter. Die Schatten haben ihn gesehen. Doch auch er ist von einem Bann umgeben und nicht zu lesen für unsereins. Er muss im Bündnis mit einem Mächtigeren
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