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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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sahen. Die Gebäude innerhalb Ambrìs waren alt, steinern, ihre Wände beinahe ausnahmslos mit Reliefs verziert, auf denen düstergrüne Patina prangte. Es waren überwiegend christliche Motive, die hier zur Schau gestellt wurden. Auf den ersten Blick erkannte Jonas den Kreuzweg Jesu und die Arche Noah. Doch bei all den Wundern Gottes, die an den Häusern von Ambrì prangten, stand ein Motiv im Vordergrund: mit ausgebreiteten Flügeln und flammenden Schwertern – Engel.
    Dann hatte der alte Mann den Bahnhof erreicht und verneigte sich leicht. Zunächst vor dem Jungen und dann noch einmal vor seinem Schatten.
    »Willkommen, Jonas Mandelbrodt, in der Stadt des Engels. Wir alle sind voll der Freude, dir und deinem Schatten zu Diensten sein zu dürfen. Mein Name ist Malachias, und wie alle hier diene ich dem Wächter. Ich bin das Gefäß des Engels und wurde gesandt, dich zu ihm zu bringen. Was auch immer dein Begehr ist, während du hier in unserer Mitte weilst, sprich es aus, und ich werde bestrebt sein, es zu erfüllen.«
    Jonas staunte über die Sprache des Mannes, die beinahe der seines Schattens glich. Und als er sich nun wieder in Richtung des Berges aufmachte, da folgte Jonas ihm schweigend.
    Während er den Ort an der Seite Malachias’ durchschritt, bestaunte Jonas Mandelbrodt auf den Wänden der Häuser die Engel. Ihre gesamte Hierarchie war hier kunstvoll abgebildet. Er erkannte Erzengel, Seraphim und Cherubim, so wie sein Schatten sie ihm beschrieben hatte. Es waren weder die kitschigen Botschafter Gottes noch die fetten kleinen Putten, die auf Werbewänden oder Postkarten prangten. Dieser Ort stand ganz im Zeichen der zornigen, kraftvollen Engel, welche die Schöpfung Gottes verteidigten und bewahrten. Krieger und Gelehrte, beseelt von der Weisheit und der Kraft des Höchsten. Beinahe wirkte der alte Malachias wie einer von ihnen.
    Jonas spürte die Blicke der Menschen, die den achtjährigen Knaben einzuschätzen versuchten, der sich da mit dem alten Malachias auf dem Weg zum Wächter, dem Herrn über Ambrì, befand. Auch ihre Schatten nahm er wahr und bemerkte, dass diese anders waren als alle, die er je zuvor gespürt hatte. Ihre Andersartigkeit durchströmte ihn wohlig, und Malachias lächelte leise. Er ahnte, das Jonas verstand. Die Menschen, die hier lebten, hatten ihre Schatten aus dem ewigen Kreislauf des Limbus gelöst und sie stattdessen in den Dienst des Wächters gestellt. Sie waren Teil von ihm, und er war Teil von ihnen, so dass nicht nur seine Hütte oben in den Bergen, sondern auch die gesamte Stadt mitsamt ihrer Bewohner seine Zuflucht darstellten. Innerhalb weniger Augenblicke konnte der Wächter an diesem Ort eine Armee aus Schatten mobilisieren, die er nicht unter seinen Willen zwingen musste, sondern die ihm aus freien Stücken treu ergeben war.
    Instinktiv spürte Jonas, dass dies eine neue, andere Form der Schattenmagie war. Eine Form, von der er bis heute nichts geahnt hatte und die den Engeln vorbehalten zu sein schien. Und selbst sein Schatten staunte, während der Junge weiter die Straße emporging. Denn auch wenn er von diesem Ort gewusst hatte, so war es doch etwas anderes, Ambrì zu spüren. Unter dem Schutz des Wächters beteten hier Menschen an der Seite von Schatten. An einem Ort, der von Glauben erfüllt war. Einem starken, ehrlichen Glauben, der aus dem Wissen seiner Bewohner um die Wunder Gottes erwuchs und der allen Übeln würde trotzen können.
    Kaum hatte Jonas die volle Bedeutung dessen erkannt, da wurde er von neuer Kraft erfüllt. Hier würde er sich nicht verbergen müssen. Denn hier fürchtete man die Schatten nicht. Er war berauscht von diesem Gefühl und der Ahnung, endlich angekommen zu sein. Von einem Moment auf den anderen war sein altes Leben als Außenseiter vorbei und beinahe schon vergessen …
    Da vernahm Jonas plötzlich das Wispern seines Schattens, der ihm etwas zeigen wollte. Seinem Wink folgend erblickte Jonas im Gras am Wegesrand ein kleines Käfertier, das auf den ersten Blick noch wie jedes andere aussah. Malachias blieb stehen und lächelte wissend.
     
    Hier nun zeigte ich meinem Herrn eine weitere schattenhafte Laune der Natur. Wie hätte das Querkraut auch die einzige dieser Art sein können? Die Natur schöpfte aus den Schatten, und nur mit diesen Ausnahmen der Regel war sie wahrhaft prächtig. Und welch wundersame Ausnahme erwartete uns dort am Rande des Weges: ein Schattenschreiter. Es war ein prächtiges Exemplar des Badistes Umbrificus.

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