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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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verbliebenes Exemplar sich im Dunkel des Rates vor der Welt verbarg.
    Cassus legte Ripleys Chronik beiseite und zog das Schemenrequiem hervor, überflog seine Notizen, betrachtete das Schattenknäuel in der Ecke des Raumes und überlegte, was er als Nächstes wagen sollte. Sein Wille und sein Ehrgeiz kannten keine Grenzen. Mit Hilfe seines Meister würde es ihm gelingen, der beste Schattenmagier zu werden, den es je gegeben hatte …
    Und ebendas war tatsächlich der Plan Mademoiselle Stinys. Sie wollte Cassus’ Schatten mit der Gesamtheit des geheimen Wissens der Schatten anfüllen, so vollkommen, wie es sich zuvor noch in keinem anderen gefunden hatte.
    Ohne dass Cassus es bemerkte, drang der Schatten von Erzsebet Stiny auf das Gelände, an den Katzenschädeln vorbei und unter dem Zaun hindurch. Er floss über den Boden, glitt durch die Lichtkegel der rostigen Laternen, suchte die Umgebung nach Informationen, Geheimnissen und den Geschichten dieses Ortes ab. Schließlich fand er eine Patronenhülse, in deren Schatten er die vergangenen Vorkommnisse las. Er erfuhr von dem Hund, seinem Besitzer und darüber, wie beide zu Tode gekommen waren. Cassus hatte sich in all den Jahren nicht verändert. Er verhielt sich so, wie die Stiny es erwartet hatte, und benutzte seine neu gewonnene Macht unbedacht. Er war nicht in der Lage, das Wissen, das sie ihm überlassen hatte, richtig einzusetzen. Sie verstand, warum Jonas Mandelbrodt von dessen Schatten zum Schüler auserwählt worden war, denn er war ihm ein weit besserer als Cassus ihr. Doch das spielte keine Rolle. Wichtig war nur, dass Cassus, der Mann mit der Silberrandbrille, jenes Wissen nun besaß. Wie er es nutzte, war unwichtig. Denn er würde es ohnehin bald weitergeben …
    Mademoiselle Stinys Schatten glitt weiter, auf das Haus zu. Vor der Schwelle zögerte er einen Moment, floss dann in Richtung eines Kellerfensters und verschwand schließlich im matten Widerschein der beiden rostigen Laternen unter den verzogenen Stufen der Veranda. Der Keller, in den er drang, war vom Licht des Würfels erfüllt, so dass er sich, um nicht geschwächt zu werden, an den Wänden entlang und durch Ritzen und Spalten bewegen musste. Die Stiny spürte das Eidolon bereits hinter den mit Glühlampen bestückten Gestellen und den milchig blassen Kunststoffplatten im Inneren jenes Gefängnisses aus Licht. So viele Jahre, so unendlich lange hatte sie darauf gewartet, ihm zu begegnen. Seit sie die Aufzeichnungen des Italieners gefunden und seinem Weg in die Schatten gefolgt war. Oh, und wie nahe war sie dem Eidolon bereits gewesen, als sie an Cassus’ Füßen in das Museum in Kutna Hora hinabgestiegen war … Der Narr hatte es fallen lassen, so dass es noch einmal entkommen war. Cassus war seit seiner Geburt unnütz gewesen. Jetzt erst, am Ende seines Lebens, würde er einen Sinn bekommen, und sie würde ihn doch nicht ganz umsonst geboren haben. Heute würde es sich auszahlen, dass sie so viele Jahre lang ihre Kraft darauf verwendet hatte, ihn vor den Blicken des Rates zu verbergen.
    Der Vorfall in Kutna Hora hatte sie Jahre gekostet. Doch alles hatte sich zum Guten gewendet. Denn das Eidolon hatte seinen vorgezeichneten Weg eingeschlagen, hatte sich ohne Anleitung einen Körper erobert, genauso wie Ripleys Plan es vorgesehen hatte … Und letztendlich hatte der Taugenichts Cassus es doch wieder in seine Gewalt gebracht. Nun saß es hier unten, irgendwo in der Wüste, gefangen in einem Kubus aus Licht. Wie sehr hatten die Dinge sich doch verändert, seit ehrwürdige Schattenschnitzer wie Ripley und der Italiener einst den Gesetzen des Dunkels nachgespürt hatten. Nun war es die Technik, die der Magie die Stirn bot …
    Aber auch diese Technik hatte ihre Grenzen. Der Schatten wusste, was zu tun war. Er glitt durch die Risse in der hölzernen Wandverschalung, hinüber zur Tür, die in den dunklen Flur führte und die sein Handlanger mit zwei massiven Vorhängeschlössern gesichert hatte, unter ihr hindurch und zu dem summenden Generator hinüber. Mademoiselle Stiny umfuhr ihn, versuchte sich zu manifestieren. Das aber ließen die Bannzeichen nicht zu. Kein Schatten würde in dem Bereich zwischen den Schädeln Gestalt annehmen können. Nicht einmal sie. Ein Großteil der Schattenmagie war hier unmöglich. Auf ihr Geheiß hin hatte Cassus der Magie gerade so viel Raum gelassen, dass das Eidolon keinen Schaden nahm und sie ihn hier ungehindert aufsuchen konnte. Doch auch das bisschen, was

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