Der letzte Schattenschnitzer
stehen, der ihn vor uns verbirgt.«
Nun drängten wieder de Maesters Worte in den Vordergrund: »Es ist der Gleiche, der das Eidolon aus seinem Kerker in Kutna Hora befreite. Ich habe mich außerhalb der Schatten umgesehen und die Bilder der Überwachungskameras des Museums bekommen. Und obwohl ich in Kutna Hora all meine Beziehungen spielen ließ, war nichts über den Fremden zu erfahren. Weder über die Fingerabdrücke noch die Bilder. Es scheint, als wäre er ein Phantom. Nur eines brachte ich doch in Erfahrung: Er trat schon früher in Erscheinung und müht sich seit Jahren, in die Geheimnisse der Schatten eingeweiht zu werden.«
Während die Worte des Scharfzüngigen noch in ihnen allen wirkten, wurde Mademoiselle Stiny von einem Schauder ergriffen, den sie nur mit Mühe vor den anderen verbergen konnte.
»Inzwischen scheint er jemanden gefunden zu haben, der sie ihm eröffnet. Sonst hätte er wohl kaum das Eidolon befreien und dieses Mädchen entführen können …«, flüsterte der Stille ins Dunkel.
»Es geht ihm nur um das Eidolon. Es ist in dem Mädchen«, berichtigte ihn der Schatten de Maesters.
»Der Junge verschwunden, das Mädchen verschwunden und das erste Siegel gebrochen. Wir scheinen unsere Aufgabe nicht allzu gut zu erfüllen …«, durchströmte der Hohn des Zynikers ihre gemeinsame Finsternis.
»Hunderte Jahre, in denen nichts geschah, und nun steht die Welt mit einem Mal im Begriff, unter unseren Augen zu zerbrechen.«
»Und wir sind hilflos wie der Schatten eines Neugeborenen.« Hierin war das Dunkel sich einig. Wer immer hinter diesen Geschehnissen steckte, sein Schatten war derart mächtig, dass er dem des Rates trotzen konnte.
»Ihr solltet den Wächter aufsuchen, Meister. Wenn er den Jungen vor uns verbirgt, wird er Gründe haben«, regte de Maester den Ältesten an.
»Außerdem ist er der Ursprung aller Unruhe, die in den Schatten rumort. Er hat Ripleys Schatten befreit. Er weiß, was vor sich geht«, ergänzte der Schatten der Stiny, bestrebt, einen Plan voranzutreiben, dessen Ausmaß der übrige Rat noch nicht einmal erahnte.
Der Älteste wusste, dass die Stimmen im Inneren des ihn umgebenden Dunkels recht hatten. Um Klarheit über die gegenwärtigen Vorkommnisse zu gewinnen, würde er den Schatten des Engels treffen müssen. Allen Zwistigkeiten der Vergangenheit zum Trotz.
»Ich werde es versuchen. In der Hoffnung, dass er nach all der Zeit noch bereit ist, mir zuzuhören …«
Dies waren die letzten Worte, die in den Schatten am Ende der Welt inmitten des Rates erklangen. Und keiner von ihnen konnte ahnen, dass es das letzte Mal war, das ihre Schatten hier vollzählig zusammengekommen waren …
Während Jonas die Zuflucht des Wächters erreichte und der Schattenrat am Ende der Welt auseinanderging, saß der, den sie nicht ausfindig machen konnten, irgendwo inmitten der mexikanischen Wüste im Hinterzimmer seines einstmals blauen Holzhauses über seinen Büchern.
Seit dem Vorfall mit dem Hund vor knapp zwei Monaten war wenig geschehen. Er hatte die Leichen in den Keller geschafft, den Körper des Eidolons gefüttert, weitere Bücher von seinem Meister bekommen und lernte eifrig. Sein Ehrgeiz, sich des großen Vertrauens würdig zu erweisen, war ungebrochen. Und er würde so lange an sich arbeiten, bis er selbst Beherrscher der Schatten war. Er würde die Makel seiner Vergangenheit abschütteln und schließlich an der Seite seines Meisters das Erbe des Alchemisten antreten. Denn dafür hatte der Unbekannte ihn auserwählt. Dessen war er sich sicher. Und wenn es so weit war, würde er bereit sein.
Eifrig studierte Cassus, der den Namen in seinem Nacken lügen strafen wollte, im Schein einer Petroleumlampe die alten Schriften der Schattengelehrten. Den gesamten Strom des Generators verbrauchte das Gefängnis des Eidolons im Keller. Hier oben aber brauchte er ohnehin nicht viel Licht. Zumal die altertümliche Lampe eine Vielzahl unruhiger Schatten schuf, die ihm gerade recht kamen. In einem Winkel des Zimmers verwahrte er einige von ihnen, mit denen er spielte, wenn ihm danach war. Er erprobte die Lektionen aus den Büchern, verknotete die Schatten, spaltete sie, ließ sie wachsen oder mit seinem eigenen Abbild verschmelzen. Und dabei machte er gute Fortschritte. Wenn er weiter in diesem Tempo vorankam, würde sein Meister ihm womöglich irgendwann einmal erlauben, einen Blick in die Alchimia Umbrarum , die höchste Bibel der Schattenkundigen, zu werfen, deren letztes
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