Der letzte Schattenschnitzer
Seine sechs Beine gegen den Boden stemmend, war er augenscheinlich auf dem gleichen Weg wie wir, den Berg hinauf, der Zuflucht des Wächters entgegen. Mein Herr staunte nicht schlecht, als er die Andersartigkeit dieses Tieres erkannte.
In seinem Falle hatte die Natur beschlossen, den Schatten des Männchens mit dem des Weibchens zu tauschen. Und während das männliche Tier langgezogen und schmal war und das weibliche eher gedrungen wirkte, verhielt es sich bei ihren Schatten genau andersherum! Das eine Tier warf den Schatten des anderen. Und die gesamte Natur hatte sich damit abgefunden … Die Kreatur gemahnte an die Wundersamkeit des Peryton, jenes geflügelten Hirschs, der den Schatten eines Menschen warf und die alten Mythen der Griechen durchstreifte. Welch Fügung, dass diese Kreatur uns hier auf dem Weg in die Zuflucht des Wächters begegnete! Ein weiteres Mal bot sich mir die Möglichkeit, meinem Herrn vor Augen zu führen, dass auch das andere seinen Platz in der Welt hatte …
Jonas ließ den Schattenschreiter, der kaum größer war als der Nagel seines kleinen Fingers, über seine Hand laufen. Er betrachtete den dürren Leib und seinen feisten Schatten, die so gar nicht zueinander passen wollten. Und er verstand, was sein Schatten ihm sagen wollte, ahnte im Angesicht dieses kleinen bräunlichen Insekts, dass es womöglich auch für ihn selbst einen Platz gab in der Welt.
Am Ende der Straße erhob sich schließlich auf einem Felsvorsprung das Haus des Wächters. Eine uralte Hütte aus groben, hölzernen Stämmen, die von Wind und Regen gezeichnet waren und in deren Ritzen dunkelgrünes Moos wuchs. Aus dem Schornstein quoll dichter Rauch, der im Himmel über der Hütte mit der Dämmerung verschmolz und eins mit dem Halbdunkel wurde. Um die Hütte herum stand ein windschiefer Zaun, auf dem in der Abenddämmerung ein gutes Dutzend Krähen hockte, die neugierig die Ankunft Jonas Mandelbrodts beobachteten.
Kurz bevor Jonas und Malachias jedoch den Zaun erreichten, flatterten sie auf. Vollkommen lautlos. Verwundert schaute der Junge ihnen nach. Und dann, als er sie über sich kreisen sah, begriff er: Dies waren keine gewöhnlichen Vögel. Sie bestanden ganz aus Schatten und waren aus dem Dunkel des Wächters geformt. Ohne jedes Geräusch zogen die Schattenkrähen ihre Kreise und flatterten wenig später davon.
Malachias öffnete das schwere, hölzerne Gartentor. Gerade wollte Jonas das Grundstück betreten, als sein Schatten ihn warnte. Doch es war zu spät. Aus der Dämmerung schossen drei riesenhafte schwarze Hunde hervor, stürzten sich auf ihn und rissen ihn zu Boden. Jonas spürte etwas auf seiner Haut. Es war ein eigentümliches Gefühl. Trocken, aber kühl. Er spürte die Zungen dreier Schattenhunde, die ihm über das Gesicht leckten, während ihre massigen schwarzen Körper ihn zu Boden drückten.
»Cerberus! Zurück. Sitz!« Die Hunde gehorchten Malachias aufs Wort. Augenblicklich ließen sie von dem Jungen ab. Und dann vernahm Jonas eine andere Stimme, die aus dem Dunkel der Hütte erklang und mit bloßem Ohr nicht zu hören war. Sie durchdrang die Dämmerung, durchdrang seinen Schatten, ließ ihn vibrieren und formte sich in seinem Inneren schließlich zu verständlichen Worten.
»Sie freuen sich nur über deine Ankunft, Jonas Mandelbrodt. Ebenso wie Malachias und ich. Aber du wirst mir verzeihen, dass ich dich nicht zu Boden werfe …«
Der Stimme haftete etwas Feierliches, Getragenes an. Und sie war wie keine, die Jonas je vernommen hatte. Weder in den Schatten noch in der Welt. Ihr Klang berührte ihn tief in seinem Inneren, und im gleichen Moment ergriff ihn eine unbestimmte Form von Ehrfurcht.
»Du musst keine Angst haben vor den Hunden. Sie sind ein Teil von mir und nur hier, um euch zu beschützen. Dich und natürlich auch deinen Schatten.«
Träge hoben die schwarzen Tiere den Blick und trotteten dann, als hätten sie einen stummen Ruf vernommen, durch die offene Tür in die Hütte. Aus ihrem Inneren drang wieder die unwirkliche Stimme: »Komm doch mit deinem Schatten herein, mein Junge, damit wir uns endlich kennenlernen können. Wir haben so vieles zu bereden, solange die Welt noch in ihren Angeln ruht …«
Malachias half Jonas auf. Der lauschte kurz in seinen eigenen Schatten hinein und schritt wenig später, nachdem der Alte ihn ermutigte hatte, langsam auf die Tür der Hütte zu. In seinem Rücken landeten die Schattenkrähen wieder auf dem Zaun und blickten ihm aus
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