Der letzte Schattenschnitzer
herangewachsen war, der sie kaum etwas entgegenzusetzen hatten.
Kaum, dass sich die Stiny mit ihnen mischte, erklang aus ihrer dunklen Mitte ernst die Stimme des Alten: »Der Wächter verweigert uns seine Hilfe. Und inzwischen verstecken sich beide, der Junge und das Mädchen, bei ihm in Ambrì.«
Seine Stimme verhallte in der Finsternis. Die Stille, die folgte, war bedrückend. Denn sie alle wussten, was seine Worte bedeuteten: Ein offener Konflikt zwischen Rat und Wächter war unvermeidlich geworden. Ambrì würde brennen. Sie würden sich – in einer Zeit, in der sie nicht einmal ihre Siegel schützen konnten – gemeinsam gegen den Schatten des Engels stellen müssen.
»Was werden wir tun?«, fragte de Maesters schwache Stimme. Ohne zu zögern, gab der Alte ihm und den anderen Antwort. Ihm zufolge blieben dem Rat einzig zwei Dinge zu tun: das Gleichgewicht zu wahren, wie sie einst geschworen hatten, und die Siegel zu schützen, die zwischen ihnen und dem Ende aller Dinge standen. »Unsere Kraft muss in die Siegel fließen. Um die Schatten der Kinder auszulöschen, werden wir auf Getreue zurückgreifen. Wir werden Söldner kaufen, sie wappnen und gegen Ambrì führen. Mobilisiert euer weltliches Vermögen und beschafft mir eine Armee.«
Um die Welt der einen wie der anderen zu retten, würden die Schatten zu den Menschen sprechen müssen. Der Älteste wählte Boris de Maester für diese Aufgabe aus, da dieser jenseits des Dunkels Sicherheit verkaufte und mit Waffen und Söldnern handelte. Der geschwächte Schatten fühlte sich geehrt, doch er wusste auch, weshalb der Alte ihn wählte. Der Henker nämlich, de Bourge, war zu impulsiv, und die Wut über sein Schicksal und den Verlust seines Körpers machten ihn unberechenbar. Er selbst hingegen handelte bedacht und umsichtig; der Krieg war sein Geschäft. Und darum ereiferte de Maester sich sogleich: »Ich kann in unserem Namen eine Armee gegen Ambrì führen. Soldaten, Waffen und Technik. Doch es wird einige Monate dauern.«
Der Älteste hoffte, dass ihnen so viel Zeit blieb. Dass sich der Unbekannte im Dunkel erholen musste, bevor er die nächsten Siegel zu brechen versuchte. Von der Zeit, die ihnen blieb, würde am Ende alles abhängen. Er musste sich Mühe geben, seine Gedanken vor den anderen zu verbergen. Und zugleich versuchte er, ihr Innerstes zu erforschen. Herauszufinden, ob es nicht doch einer von ihnen war, der die Welt ins ewige Dunkel zu schleudern versuchte. Doch weder im Schatten de Maesters, des Henkers noch dem von Erzsebet Stiny spürte er eine Spur von Verrat.
Womöglich – und dieser Gedanke durchzog sein Dunkel beinahe schmerzlich – war es doch Bestimmung, dass die Welt in Schatten versank.
Bevor sich eine neuerliche bedrückende Stille in der Finsternis der Höhle ausbreitete, erklang die Schattenstimme des Henkers: »Aber der Fremde hat Skugga nicht nur besiegt, sondern sich sogar seinen Schatten einverleibt! Und wir ahnten nicht einmal, dass es dort draußen einen derart mächtigen Schattenfresser gibt!«
»Du hast recht«, erwiderte der Alte. »Wir glaubten, sie vernichtet zu haben, und wissen nichts über ihn und seine Macht. Wie stark er ist, wie lange er brauchen wird, um wieder zu Kräften zu kommen. Und darum müssen wir hoffen …«
De Maester wisperte: »Hoffnung allein wird die Welt nicht retten. Wer immer es ist, er vollendet den Plan des Alchemisten. Und der Wächter steht ihm zur Seite. Die Siegel sind der Schlüssel. Sie zu bewahren heißt, ihm zu trotzen. Wer immer er ist.«
»Was aber, wenn es ihm gelingt, alle Siegel zu brechen?«
Während der Henker zweifelte, hatte der Älteste eine Antwort parat: »Dann wird er versuchen, dem Eidolon das künstliche Tor in den Limbus zu öffnen …« Der Älteste seufzte. »Das sich in Ambrì, in der Obhut des Wächters, befindet.« Der Henker lachte bitter auf.
»Ha! In der Obhut jenes Wächters, der das Ende der Dinge befördert! Wie köstlich! Oh, das hätte Skugga gefallen. Die Welt der Schatten ist vom Wahnsinn durchtränkt! Wie sollen wir dem jemals trotzen können?«
»Ha! Ein Grund mehr, den Ort zu erobern!« Im Dunkel hatte die Stimme de Maesters beinahe zu ihrer alten Kraft zurückgefunden.
»Aber selbst wenn alle Siegel gebrochen werden, kann doch nur Ripleys Schatten das Tor öffnen, das sein Herr geschaffen hat. Und wo der ist, weiß womöglich auch der Wächter nicht …«, murmelte der Alte, mehr zu sich selbst als zu den anderen, was jedoch im Schatten kaum
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