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Der letzte Schattenschnitzer

Der letzte Schattenschnitzer

Titel: Der letzte Schattenschnitzer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian von Aster
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Sessel unter dem Fenster hinüber. Als er sich setzte und sich zurücklehnte, spürte er die misstrauischen schwarzen Blicke des Mädchens. Er schloss die Augen, ließ sich fallen, strömte in seinen Schatten und trennte sich von seinem Körper. Und dann, nachdem der Wächter ihm verraten hatte, wo ihr Siegel sich befand, machte er sich auf, um Erzsebet Stiny zu finden und zu beobachten.
     
    Nur wenige Augenblicke, bevor mein Herr in meinem Inneren die Zuflucht verließ, glaubte ich noch, etwas Sonderbares wahrzunehmen. Einen kurzen Moment lang hatte ich das Gefühl, dass der Schatten Marias sich unter den wohlwollenden Blicken des Wächters verschwörerisch nach mir reckte. Bevor er sich aber mit mir verbinden konnte, bemerkte ihn mein Herr. Da zog der Schatten sich eilig zurück, und ein weiteres, erschreckendes Mal nötigte irgendetwas in meinem Inneren mich dazu, es meinem Herrn zu verschweigen. Und nun, da diese Regung mich bereits zum zweiten Mal ergriff, begann ich zu ahnen, das irgendetwas Dunkles in meinem Inneren vonstatten ging. Wie aber hätte ich mir damals auch nur träumen lassen sollen, dass ich, der ich meinem Herrn verbunden war wie kein Zweiter, ihn bald schon verraten würde …?

    Als der Rat der Schatten auseinanderstrebte, blieb der Älteste allein am Ende der Welt zurück. Er fühlte sich, als wäre er längst Teil dieser Höhle. Im Gegensatz zu den anderen gab es nichts, das ihn an das Leben dort draußen band. Selbst sein Körper war ihm längst fremd und geradezu eine Last geworden. Und so verbarg er sich hier unten, am Ende der Welt, vor seinem eigenen Leben.
    Sein Schatten huschte über die steinernen Wände, durch Felsspalten und Flechten, tiefer in das undurchdringliche Dunkel. Hier in der Finsternis war er zu Hause. Wie kein anderer war sein Schatten inzwischen mit dem Dunkel verwachsen, er kannte seine tiefsten Geheimnisse, von denen die anderen nicht einmal etwas ahnten. Denn der Fluch der tieferen Höhle war allein die dunkle Bürde des Ältesten. Und das war gut so, denn er ahnte längst, dass einer von ihnen das Gleichgewicht verraten hatte.
    Im Gegensatz zu den anderen wusste der Älteste um die verborgenen Schätze von Ambrì, die mächtigen mythischen Artefakte, die der Wächter in seiner Zuflucht hütete. Aber auch um etwas anderes wusste er, das er vor dem Rest des Rates verbarg, seit er in den Schatten wandelte. Und ebendieses Geheimnis war sein Ziel. Er drang tiefer in die undurchdringliche Finsternis unter der Welt, näherte sich dem uralten Geheimnis, das er einst zu hüten geschworen hatte. Er war beinahe dort, konnte sie bereits spüren. Hier, in der ewigen Nacht des Welteninneren, ruhten seit den Tagen der Chaldäer Ungeheuer aus reiner Finsternis. Und während ihre Körper längst verrottet, ihr Ursprung längst von Herakles und den alten Göttern erschlagen worden war, hatten die Schattenmagier der Antike ihre Schatten an diesen Ort gebannt. Abbilder längst vergessener Kreaturen: Kronos, Phobos, Hyperion, Titanenschatten, deren Hass auf die Welt seit Ewigkeiten in der Finsternis gor.
    Der Älteste spürte ihn deutlich. Wie ein bitteres Gift, das die Schwärze durchdrang. Und es erschütterte ihn tief, ließ ihn schaudern. Die Schatten hier unten waren verdorben, durchdrungen von Verzweiflung. Denn die Titanen stammten aus einer älteren Welt, selbst der Limbus blieb ihnen verwehrt, und sie waren dazu verdammt, auf ewig zu existieren. Darum hassten sie alles, was vergänglich war, flüsterten dunkle Worte in alten Sprachen und gierten darauf, Verderben über die Welt zu bringen. Und dennoch stellten sie nun vielleicht die letzte Hoffnung dar, die dem Rat jetzt noch geblieben war.

    In der malerischen Provinz Viterbo, im Herzen Italiens, lag der Bosco Sacro , der Heilige Park. Tatsächlich aber nannten die wenigsten den Garten bei seinem ursprünglichen Namen. Weit gebräuchlicher war die Bezeichnung Bosco die Monstri , Park der Monster. Denn das war es, was ihn ausmachte. An diesem Ort verbanden sich die Untiefen menschlicher Vorstellungskraft mit alten Mythen zu furchteinflößenden, steinernen Skulpturen.
    Der Park der Monster erwachte, als der warme Atem des Frühlings die Büsche und Sträucher, Blätter und Zweige streifte. Alles begann zu wuchern, Grün wand sich um die zahllosen Fabelwesen, denen der Park seinen Namen verdankte. Graf Orsini hatte ihn einst nach dem Tode seiner Frau anlegen lassen. Um Trauer und Wut zu verarbeiten, die Unholde seiner

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