Der letzte Schattenschnitzer
aller Zeiten, einen Blick in jenen Ort hineinzuwerfen und selbst einen Schritt ins Herz der Dunkelheit zu setzen. Doch keiner von ihnen drang jemals bis dorthin vor. Was stets unmöglich schien, vollbrachte am Ende George Ripley. Doch nicht um der Weisheit der Schatten willen, nicht um einen Blick hinter den Schleier der Nacht zu werfen. Sein Antrieb, ein künstliches Tor zu errichten, war ein anderer. Getrieben von Rachsucht und dem Wunsch, das Gleichgewicht zu zerbrechen, in dessen Namen er und die Schattenschnitzer zugrunde gerichtet wurden, schuf der Alchemist ein Tor in den Limbus. Ein Tor, das jedem offen steht, der es zu betreten wagt.
So jedenfalls sagt man, denn niemand erblickte je dieses Tor, das – vom Rat der Schatten verborgen – nicht Mensch noch Schatten zugänglich ist.
11.
Wie steht hinter jedem sein Schatten,
sein dunkler Weggefährte!
Friedrich Nietzsche
(1844-1900)
A ls Jonas in seinen Körper zurückkehrte und hoch über Ambrì in der Heimstatt des Wächters die Augen aufschlug, stand neben dem Sessel Carmen Maria Dolores Hidalgo. Sofort begann sein Herz schneller zu schlagen, während das Mädchen ihn kühl betrachtete und er zu lächeln versuchte. Sie jedoch zeigte keine Regung. Er schaute in ihr streng geschnittenes, hageres Gesicht und dachte plötzlich, dass es nicht wie das eines vierjährigen Kindes schien. In Marias schwarzen Augen erkannte er den gleichen Ernst, der die Menschen immer auch schon bei ihm irritiert hatte und der aus einem Wissen erwuchs, das voll dunkler Geheimnisse und verborgener Wahrheiten war. Es bedurfte nur dieses einen Blickes, und Jonas wusste, dass Maria tief in ihrem Inneren ebenso wenig ein Kind war wie er selbst.
In diesem Augenblick schien sich zu bewahrheiten, was er – seit er das erste Mal von diesem Mädchen gehört hatte – die ganze Zeit über gehofft hatte. Endlich, nach all den Jahren, hatte er eine Verbündete im Schatten gefunden.
Jonas wollte sich gerade von dem alten durchgesessenen Sessel erheben, als er auch Erzsebet Stiny bemerkte. Sie lehnte in ihrem roten Kostüm neben dem alten Malachias am Fenster. Und für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als wären sie eine kleine, verschworene Familie.
Während die Schatten in Mademoiselle Stinys Dekolleté sich sachte regten, rauchte sie eine Zigarette und beobachtete Jonas und Maria. Sie blies einen blassen Rauchkringel in die Luft und schaute dem Jungen in die Augen.
»Ich habe sie heute gemeinsam mit dem Alten vom Flughafen abgeholt. Nachdem wir ihren Vater davon überzeugen konnten, sie herzuschicken.«
Lächelnd nickte Jonas ihr zu.
»Und Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen dafür bin, Mademoiselle.«
»Ja, ich weiß, wie wichtig es dir ist.« Sie schaute ihn eindringlich an, und etwas in ihrem Blick veränderte sich. Jonas verstand diesen plötzlichen Ernst nicht. Bis die Stiny weitersprach: »Aber ich habe es nicht für dich getan.«
Er war verwirrt. Irritiert blickte er von Erzsebet Stiny zu Malachias, dann zu Maria hinüber und verstand nicht.
Da hob der Alte zu sprechen an. Und aus ihm klang die Stimme des Wächters, der Besitz von ihm ergriffen hatte und dessen Worte den Jungen schaudern ließen: »Sie hat recht, Jonas. Maria ist nicht deinetwegen hier. Ebenso wie du ist sie lediglich ein Teil dessen, was die Welt verändern wird. Wir alle weilen an diesem Ort, weil die Zukunft von jedem Einzelnen von uns abhängt. Von dir und diesem Mädchen allerdings mehr als von mir, Mademoiselle Stiny oder dem Rat.«
Ob er nun wollte oder nicht, Jonas Mandelbrodt ahnte, dass er sich mit dieser Auskunft würde zufriedengeben müssen. Denn der Schatten des Engels gab keine Antworten, bevor nicht die Zeit für sie gekommen war. Und wann das der Fall war, bestimmte niemand anders als er selbst. Jonas hatte längst verstanden, dass man einen Schatten, der so alt war wie die Welt, nicht einfach umstimmen konnte.
Darum wandte er sich nun wieder Maria zu. Und erst in diesem Moment bemerkte er, das irgendetwas nicht so war, wie es hätte sein sollen. Er hatte es schon zuvor wahrgenommen, aber jetzt erst, da er sie von Kopf bis Fuß musterte, verstand er es: Maria war nicht länger das Mädchen ohne Schatten …
Fürwahr, mein Herr brauchte lange, um zu merken, was ich längst gespürt hatte. Vermutlich waren es seine Gefühle, die ihn damals blendeten und das Wesentliche übersehen ließen. Und in jenem Augenblick war Jonas Mandelbrodt ganz voll von Gefühl. In ihm erwachte
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