Der letzte Schattenschnitzer
Vorstellung freizulassen und schließlich in Frieden sterben zu können.
Bis dahin aber war es ein langer Weg gewesen und die Monster seiner Vorstellung waren zahlreich geworden. Nun aber bevölkerten sie den Park bereits seit dem 16. Jahrhundert und stellten mit ihren aufgerissenen Mäulern, fürchterlichen Pranken und grimmigen Gesichtern die Wirklichkeit in Frage. An den Wegkreuzungen lauerten der Cerberi, Oger oder Drachen, und selbst die Tore und künstlichen Höhleneingänge stellten die Schlünde dämonischer Kreaturen dar. Trotz des Mooses und der wilden Blumen, die auf ihren Flanken blühte, schienen sie alle bloß zu schlafen. Stoisch und steinern starrten die Monster auf die Besucher herab, als wären sie nicht würdig, von ihnen angefallen und zerrissen zu werden.
Erzsebet Stiny war dieser Ort während der letzten hundert Jahre beinahe zu einem zweiten Zuhause geworden. Denn hier verbarg sich das Siegel, das sie mit ihrem Leben zu schützen geschworen hatte. Für ihre Augen war der Park der Monster vom Zauber der Schatten durchdrungen. Sie liebte es, darin herumzuschlendern und den Schatten des Uralten zu ahnen, um den der Park errichtet worden war.
Orsini hatte von der alten Kunst der Schattenschnitzer gelesen, doch keiner ihrer Meister hatte bis zu seinen Tagen überlebt. Er hätte gerne ihr Handwerk erlernt, wäre selbst gerne zum Schattenschnitzer geworden, um die Natur im Nachhinein zu vervollkommnen. Einem von ihnen aber war er schließlich doch auf die Spur gekommen: dem Italiener. Ein wahrer Meister, der noch mit den Letzten seiner Zunft in Verbindung gestanden hatte und schließlich, nach dem Tod des englischen Alchemisten, der letzte lebende Schattenschnitzer gewesen war …
Allein der Tatsache, dass Orsini in den Besitz seines Nachlasses gelangt war, verdankte die Welt den Park der Monster. Denn hier hatte der Italiener einst sein Meisterstück vollbracht. Alles andere, was der Italiener je geschaffen hatte – Schattenstatuetten und Skulpturen aus reiner Nacht –, war vom Rat beschlagnahmt worden. Der verschmolz es wieder mit dem Dunkel, bannte es zurück in die Finsternis.
In den Augen Orsinis hatten diese Leute das Größte zerstört, was je aus den Schatten entstanden war. Das Meisterstück des Italieners aber hatten sie nicht zerstören können. Zu viel Macht war in dieses Bild geflossen und hatte es unwiederbringlich an die Erde gebunden: Nyx , die griechische Göttin der Nacht. In ihr hatte er der Dunkelheit und den Schatten ein Denkmal gesetzt.
Der riesige Fels im Herzen des Parks wirkte, als ob ein Riese ihn unachtsam hätte fallen lassen. Hier, wo alle anderen Steine feine Formen gewonnen hatten, schien er auf eigentümliche Weise fremd . Ein ungeschlachter grober Fels inmitten vollendet phantastischer Figuren. Die meisten Touristen, die den Stein erblickten, runzelten die Stirn und gingen weiter. In Wirklichkeit aber barg dieser plumpe Fels die prächtigste Statue des ganzen Parks. Jene, die vor allen anderen da gewesen und Ursprung der Vision Orsinis gewesen war.
Nyx, die Nacht selbst, war nicht aus dem Fels, sondern aus seinem Schatten geschlagen worden. Ein Schattenstandbild, das der Sonne trotzte und zu jeder Zeit des Tages Richtung Osten fiel. Um diese Bild herum hatte Orsini den Park errichtet; alle Kreaturen hier vollführten einen Tanz um die Göttin der Nacht, die Geliebte der Schatten.
Erzsebet Stiny fühlte sich beinahe mit ihr verwandt. Diese Statue war das letzte offene Zeugnis der Schattenschnitzer in der Welt.
Als es dem Rat nicht gelang, das Abbild zu zerstören, hatte er das dritte Siegel ins Innere des Schattenbildes eingelassen und es zu einem Symbol seiner Macht gemacht. Der schicksalhafte Moment, als Erzsebet Stiny wesentlich später vom Rat mit der Bewahrung des Siegels beauftragt worden war, hatte alles verändert. Denn sie hatte sich mit diesem Ort beschäftigt, versucht, seine Geheimnisse zu ergründen, und schließlich im Nachlass Orsinis den Briefwechsel des Italieners mit dem englischen Alchemisten gefunden. Sie hatte die Macht gewittert, die in Ripleys Plan des Endes lag. Fortan hatte sie ihn studiert, war den Spuren gefolgt und hatte schließlich sogar den Kerker gefunden, in den der Rat einst Ripleys geschundenen Schatten gebannt hatte …
Unfähig, ihn selbst zu befreien, war Mademoiselle Stiny verzweifelt, gründete bald in Holland einen modernen Mänadenkult, gab sich dem Rausch hin: Männern, Wein und Substanzen, welche die Wirklichkeit
Weitere Kostenlose Bücher