Der letzte Schattenschnitzer
eine sonderbare Chimäre – erwachsen aus der Jugend seines Körpers und dem Alter seines Geistes. Nichts als Sehnsucht spürte er, als er jenem fremden Wesen, nach dessen Nähe er sich seit so langer Zeit gesehnt hatte, gegenüberstand. Ich nahm wahr, wie in ihm der Gedanke wuchs, gemeinsam mit diesem Mädchen alt zu werden. Hier in der Zuflucht. Ganz gleich, ob sie einen Schatten hatte oder nicht.
Während Jonas Mandelbrodt all dies empfand, besaß sie längst wieder einen Schatten. Im Gegensatz zu meinem Herrn spürte ich es, kaum dass wir im Gefolge des Wächters vom Dach der Welt wiederkehrten. Und ich wusste gleichzeitig, dass es nicht wahrhaftig der ihre und sie selbst von bösen Kräften umgeben war. Nicht nur war der Schatten zu ihren Füßen verschlossen wie jene des Rates, nein, auch schien er nicht der Einzige zu sein, der mit ihr verbunden war. Es ist schwer zu beschreiben, was ich empfand. Derlei hatte ich zuvor noch niemals wahrgenommen. Aber es war beinahe, als ob sich in ihrem Inneren noch ein weiterer Schatten regte.
Ich wusste, dass mein Herr, selbst wenn ich ihn warnte, nicht auf mich hören würde. Nicht in diesem Augenblick, da er jenes Mädchen traf, das ihm Hoffnung gab, nicht allein zu sein. Und darum beschloss ich, Jonas Mandelbrodt, mit dem ich bis zu diesem Tage alles geteilt hatte, etwas vorzuenthalten. Und es war nicht das Einzige, was ich ihm zu meiner eigenen Verwunderung verschwieg. Denn während ich Marias wahres Wesen ahnte, spürte ich, wie der Wächter im Schatten der Stiny wisperte. Und als ihr Schatten sich ihm öffnete, da blickte ich für einen kurzen Moment in sie hinein. Für die Ahnung eines Augenblickes glaubte ich, aus ihrem das Lachen von Skugga, dem Schattenspieler, herauszuhören. Das Beunruhigende aber war weniger, dass ich meinem Herrn auch dies verschwieg, sondern dass ich nicht einmal wusste, warum ich es tat …
Jonas Mandelbrodt scherte sich nicht weiter um Marias Schatten. Sie war hier. Bei ihm. Das war alles, was zählte. Sie war seine Verbündete, eine Seelenverwandte, Schattenvertraute. Er tat einen Schritt auf Maria zu und nahm sie in den Arm. Zögerlich erwiderte sie seine Umarmung. Dabei hatten ihre Bewegungen jedoch nichts Herzliches, sondern beinahe etwas Mechanisches. Jonas aber nahm nur wahr, dass auch sie ihre Arme um ihn legte. Doch so sehr er in diesem Moment die Nähe Carmen Maria Dolores Hidalgos genoss, so wenig war das Mädchen überhaupt bei ihm …
Wenig später löste sich der Schatten Erzsebet Stinys vom Körper des Alten und kehrte an den Fuß seiner Herrin zurück. Zufrieden beobachtete sie, wie die Kinder einander im Arm hielten. Das Eidolon machte Fortschritte und Jonas’ Zuneigung für das Mädchen schien zu wachsen – die Dinge nahmen ihren Lauf.
Mademoiselle Stiny tippte die Asche ihrer Zigarette ab und löste sich mit einem versonnenen Lächeln vom Fensterbrett.
»So, ihr zwei, ich werde nun aufbrechen. Es ist Zeit für mich, und die Schatten pfeifen es schon aus dem Dunkel: Der Rat wurde einberufen. Euer Treffen auf dem Dach der Welt hat das Dunkel in Unruhe versetzt. Zumal auch ich ein Siegel zu schützen habe und mich den Dingen stellen muss, die über der Welt heraufziehen.« Mit diesen Worten kam sie langsam auf die beiden Kinder zu. »Ihr seid hier in Sicherheit. Bleibt bei Malachias, hier, in der Obhut des Wächters. Gemeinsam werdet ihr alles überstehen.«
Erzsebet Stiny kniete sich neben die beiden und breitete ihre Arme aus, dennoch wirkte sie kühl wie eh und je. Jonas und Maria öffneten ihre Umarmung und nahmen sie zwischen sich auf. Auch Malachias, und mit ihm der Wächter, trat an ihre Seite, und ein letztes Mal berührten sich ihre Schatten.
Sie alle spürten, dass es nie wieder so sein würde.
Einige Stunden später hatte Erzsebet Stinys Schatten – dem Jonas Mandelbrodts Gedanken noch immer nachhingen – bereits das Ende der Welt erreicht, wo ihn die verbliebenen Mitglieder des Rates im Dunkel ihrer Höhle erwarteten. Der Schatten de Maesters wirkte noch immer schwach und blasser als die der anderen drei. Erst als sie alle zusammenflossen, gewann er wieder an Kraft. Doch einer fehlte in ihrer Mitte.
Der Tod des Schattenspielers hatte eine Lücke ins Schwarz des Rates gerissen. Schlimmer aber als Skuggas Tod war der Umstand, dass der unbekannte Siegelschänder auch seinen Schatten verschlungen hatte. Ein Schattenfresser, der sich bisher vor ihnen verborgen hatte und unbemerkt zu einer Macht
Weitere Kostenlose Bücher