Der letzte Single fangt den Mann
oder besser gesagt, es wird immer dunkler, denn die Sonne ist nicht zu sehen,–, als wir über gigantische Brücken fahren, die die bergigen grauen Inseln miteinander verbinden, an riesigen Siedlungen mit fünfzigstöckigen Wohnblöcken vorbei, die nebeneinander aufgereiht sind.
Schließlich taucht Hongkong City in einer Lichterexplosion auf. Das erinnert mich an Blade Runner: futuristisch und seltsam und schön. Hunderte von Wolkenkratzern in allen Höhen und Formen sind grell beleuchtet vor einem grauen Berg. Als wäre man auf einem anderen Planeten, denke ich. Wie in einer anderen Welt.
Ich bin so müde.
Wir fahren durch einen langen Tunnel, der, wie ich vermute, unter dem Hafen verläuft, und kommen auf Hongkong Island heraus, auf einer Autobahn, die sich über die Insel schlängelt. Zuerst fahren wir durch Wohnviertel, die jedoch bald Firmengebäuden mit glänzenden, spiegelnden Glasfassaden weichen, die höher hinaufreichen, als ich sehen kann. Es ist wunderschön, denke ich abwesend. Einfach wunderschön. Ich frage mich, wo Dave gerade ist. Ich blinzle, und es dauert lange, bis ich die Augen wieder öffne.
Nach ein paar weiteren Minuten biegen wir in eine Einfahrt. Ein Page, auch in rot-schwarzer Livree, öffnet mir die Wagentür, und ich betrete die Marmorlobby des Mandarin Oriental.
Während ich darauf warte einzuchecken, lasse ich den Blick schweifen. Die Gäste in der Lobby wirken ausgeruht und elegant. Ich dagegen sehe aus wie ein zerkautes Kaugummi. Ich spüre, dass meine Haut vom Flug und dem Schlafmangel spannt. Ich brauche dringend eine Dusche, und meine Zähne fühlen sich pelzig an– oh, ich bin dran.
» Haben Sie ein Nokia-Ladegerät?«, frage ich, nachdem ich meine Zimmerkarte ausgehändigt bekommen habe.
» Sicher, Miss Wood«, antwortet der Concierge. » Wir werden eins finden und Ihnen aufs Zimmer schicken.«
Gott segne Firmenspesen, denke ich, während der Hoteljunge mir mein Zimmer zeigt. Es ist wirklich das schönste Zimmer, das ich je gesehen habe, mit dem Duft nach maskulinem Luxus. Ausgestattet ist es mit einer großen begehbaren Dusche, einer Badewanne und einem riesigen Spiegel mit Waschbecken. Mir kommt der Gedanke: Robert wäre begeistert von diesem Zimmer. Mist! Robert! Ich habe ihn seit Tagen nicht mehr gesehen.
Ich gebe dem Hoteljungen Trinkgeld und lasse mich danach direkt ins Bett fallen.
Ich brauche Schlaf, ich brauche ihn wie Sauerstoff, aber mein Körper pulsiert vor Koffein und Unruhe.
Ich klappe meinen Laptop auf und checke meine E-Mails, nur für den Fall, dass Dave sich gemeldet hat… Nichts. Ich habe keine Lust, die anderen E-Mails zu lesen. Wissen Sie, in meinem Magen ist immer noch dieser brennende Schmerz, egal, wie sehr ich versuche, ihn wegzuatmen.
Der Concierge ruft an. Sie haben Mühe, ein altes Nokia-Ladegerät aufzutreiben. Gott, warum habe ich keins mitgebracht?
Schließlich, nachdem ich das Vergnügen hinausgezögert habe, es zu tun, denn wenn es einmal getan ist, kann ich es nicht wieder rückgängig machen, nehme ich mir das Hoteltelefon und wähle Daves Nummer. Er ist immer noch in Singapur, aber ich kann nicht bis morgen warten. Ich muss wissen, ob alles okay ist, damit ich schlafen kann.
Bitte, heb ab, bitte, heb ab… Gott, mein Herz klopft bis zum Hals.
Direkt verbunden mit der Mailbox.
Ich hinterlasse die folgende Nachricht: » Hi! Ich bin’s… Ich… äh… wollte mich nur mal melden… Schreib mir eine Mail, wenn du kannst. Der Akku von meinem Handy ist leer. Aber ich muss dir etwas Aufregendes erzählen… Tschüss.«
Ja, eine ziemlich blöde Nachricht.
Ich lege auf, während der Unsicherheitsstrick um mein Herz sich noch fester zusammenschnürt. Tief einatmen, Abigail. Geh unter die Dusche und anschließend ins Bett, und wenn du aufwachst, ist alles wieder gut. Dave wird auftauchen, wie immer.
Nachdem ich den Concierge gebeten habe, keine Anrufe durchzustellen (in London ist erst Mittag, und Suzanne wird wahrscheinlich versuchen, mir hinterherzuspionieren), » außer Sie haben ein Ladegerät gefunden«, wie ich möglichst deutlich hinzufüge, klettere ich ins Bett und schließe die Augen.
Kapitel 36
Was folgt, ist ein zwölfstündiger Albtraum.
Mein Gehirn hört nicht auf zu rasen, mir ist abwechselnd heiß und kalt, ich wälze mich ständig hin und her. Ich weiß nicht, ob es die Müdigkeit ist oder mein Unwohlgefühl, aber mein Magen ist eine blubbernde, tosende Nervenmasse. Meine Gedanken jagen hin und her zwischen
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