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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Notizen, steckte das Heft wieder ein. Aus der anderen Tasche fischte er eine zerknautschte Zigarette und eine Streichholzschachtel. Er zündete die Zigarette an, nahm einen langen Zug und stieß nachdenklich den Rauch aus.
    Paulo gähnte. Er war hundemüde.
    Die Spitze des Füllfederhalters beendete den Halbkreis des letzten Buchstabens, eines Konsonanten, schwang leicht nach links und unterstrich einen Teil des Nachnamens. Dann wurde sie angehoben, um den t-Strich zu malen. Rechts neben die Unterschrift wurde ein Punkt gesetzt. Fertig.
    »Und schon hat dein Vater die Entschuldigung unterschrieben«, sagte Eduardo und hielt Paulo das Schulheft hin. »Damit kannst du dich morgen seelenruhig in der Schule blicken lassen.«
    Paulo musterte Text und Unterschrift. Perfekt.
    »Die ist ja genau gleich. Man sieht nicht den kleinsten Unterschied zu der Unterschrift oben.«
    Eduardo lächelte.
    »Die oben ist auch von mir.«
    Er mochte ein miserabler Fußballspieler sein, mager und ungeschickt, hässlich, komisch, langweilig, ein Streber – sie konnten ihn nennen, wie sie wollten, diese Jungen, die ihn in jeder neuen Stadt hänselten, in die sein Vater versetzt wurde. Aber niemand, wirklich niemand, konnte besser Handschriften und Unterschriften fälschen als er, und zwar jede Unterschrift.
    Es war eine Fertigkeit, die er sich an trostlosen einsamen Nachmittagen angeeignet hatte, indem er erst die runde Unterschrift seiner Mutter nachahmte, dann die feinen langgezogenen Linien der Handschrift des Vaters und später die Bögen und Schwünge, die sich auf den handgeschriebenen Umschlägen von Briefen aus der Verwandtschaft fanden. Eine nach und nach wie von selbst erworbene Fähigkeit, bis er sein unnachahmliches Talent erkannte, als er Zug um Zug die verschnörkelte Unterschrift des Notars auf seiner eigenen Geburtsurkunde nachahmte, die er in der letzten Stadt zur Schulanmeldung hatte mitbringen müssen.
    Nun erwies sich dieses Talent, das er außer vor seinem besten Freund vor allen geheim gehalten hatte, erneut als nützlich. Dieser wunderbare Morgen war wirklich nicht dazu geschaffen, eingesperrt im Klassenzimmer den Litaneien der Lehrer zu lauschen.
    Das hatten sie festgestellt, als sie sich am Schultor trafen. Ein kurzer Blick zwischen ihnen, und sie stiegen gar nicht erst von den Rädern, sondern fuhren einfach weiter bis zur Landstraße. Morgen würde es genügen, die Hefte mit den Entschuldigungen und den entsprechenden Unterschriften vorzuzeigen.
    Eduardo räkelte sich. Er war müde. Letzte Nacht hatte er wieder lange wach gelegen. Wegen des Alten. Und das Schlimmste daran war, dass sie nichts erreicht hatten. Es gab nichts Neues. Sie waren noch genau so weit wie in der Nacht, in der sie die Ermittlungen aufgenommen hatten.
    Er suchte sich ein trockenes Stück Rasen und streckte sich aus. Die Schuluniform hatte er zusammengefaltet neben sich gelegt. Ganz in der Nähe sangen die Vögel ihr Morgenlied. Große Wolken ballten sich über ihnen und spiegelten sich im See.
    »Wann?«, drang Paulos Stimme aus der Ferne zu ihm.
    »Wann was?«
    »Wann hast du die Unterschrift oben drüber gefälscht?«
    »Als du das letzte Mal aus dem Unterricht geflogen bist.«
    »Ach ja, stimmt. Als ich dem Besserwisser Januzzi eine verpasst habe.«
    »Nein. Als du den kleinen Spiegel unter Suzana Scheienfebers Pult gelegt hast, um ihr Höschen zu sehen.«
    Er hörte Paulo in den See springen. Schwimmen. Dann Stille. Wahrscheinlich trieb Paulo auf dem Wasser. Der Schrei eines Rotsteißpapageis. Stille. Das Piepsen eines Anis. Ein sanfter Windhauch an seinem Ohr. Stille. Das Rascheln des Bambus. Ein Summen. Eine Mücke? Eine Libelle? Stille. Trägheit … Müdigkeit. Die Augen fielen ihm zu. Die Wolken verschwanden. Schwärze.
    »Sie hatte kein Höschen an.« Paulos Stimme riss ihn aus dem Schlaf.
    »Was hatte sie?«
    »Sie hatte kein Höschen an.«
    Paulo stand vor ihm. Tropfte ihn voll.
    »Wie meinst du das: Sie hatte kein Höschen an? Natürlich hatte Suzana ein Höschen an.«
    »Die Tote, Eduardo. Diese Anita. Sie hatte kein Höschen an.«
    Eduardo stützte sich auf die Ellbogen.
    »Das hat ihr der Kerl wohl runtergerissen.«
    »Runtergerissen?«
    »Um sich an ihr zu vergehen. Sie ranzunehmen.«
    Paulo kauerte neben ihm nieder.
    »Aber beim Zahnarzt waren auch keine.«
    »Keine was?«
    »Höschen. Keine einzigen.«
    »Bestimmt hatte sie welche, und wir haben sie bloß nicht gesehen.«
    »Wir haben uns überall umgeschaut.«
    »Sie muss

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