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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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Die durchaus als Weiße durchgehen konnte. Mit grünen Augen.«
    »Ihr Bruder hingegen …«
    »Ihr Bruder?«
    »Ja. Renato. Ihre Akten sind im selben Ordner. Renato wurde als Schwarzer registriert. Noch ein Schlückchen Likör?«
    Ihr Weg führte sie über die Betonsitzreihen mitten zwischen Fans hindurch, die ihr Team anfeuerten. Auf dem Platz kämpfte eine Mannschaft in blauen Trikots gegen eine andere in gelben Trikots in einem Spiel, das der Alte nicht kannte, das ihm aber brutaler erschien als Fußball. Paulo, der vor Eduardo ging, drehte sich um und sagte irgendetwas über das regionale Halbfinale im Hallenfußball, aber der Alte konnte ihn inmitten der grölenden und Schals und Fahnen schwenkenden Fans nicht verstehen.
    Die Jungen sprangen die Stufen hinab, waren schon unten angelangt und sahen dem Spiel zu, als der weißhaarige Mann sich noch mühsam einen Weg zwischen den Zuschauern hindurchbahnte, weil die Stufen so hoch waren und kein Geländer vorhanden war.
    Als das Trio wieder beisammen war, gingen sie zur Ersatzbank des blauen Teams. Paulo und Eduardo sprachen mit einem Halbwüchsigen mit militärisch kurzem Haarschnitt. Er beugte sich vor, um sie besser hören zu können, schüttelte dann verneinend den Kopf und zeigte auf die Ersatzbank des gelben Teams auf der anderen Seite, das durch ein Eisengitter von ihnen getrennt war.
    Rasch kehrten sie auf die Tribüne zurück und umrundeten im Eiltempo das halbe Feld, wobei sie einigen lauthals schimpfenden Zuschauern auf die Füße traten. Als der Alte sie einholte, hatten sie schon erfahren, was sie wissen wollten. Sie diskutierten angeregt, bis sie an der Tür zu den Umkleidekabinen angekommen waren. Wieder berieten sie sich. Dann betrat der Alte die Umkleideräume allein.
    Es stank nach Urin, Feuchtigkeit und Schweiß. Alle Lichter waren ausgeschaltet. In der Helligkeit, die vom Spielfeld hereindrang, erkannte er vage einen Gang. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Der Gang führte in einen langgestreckten, durch Trennwände unterteilten Raum. Geflieste Wände. Kleidungsstücke an Haken. Zwei Holzbänke. Ein Pissoir. Ein Raum mit bis zum Boden reichenden Zwinwänden, hinter denen er Toiletten vermutete. Eine Reihe Duschen. Ein grünlicher, an eine Landkarte erinnernder Wasserfleck an der Decke, von dem dunkle Tropfen fielen und eine langgestreckte Pfütze bildeten, die zu groß war, um sie zu umgehen.
    Er durchquerte sie auf Zehenspitzen. Als er schon fast an den Bänken angekommen war, stolperte er über einen Eimer. Das hohle Scheppern hallte von den Wänden wider und verlor sich in der Dunkelheit. Er hielt an. Ihm war, als hätte er Geflüster gehört. Er nahm einen neuen, frischen Geruch in der Luft wahr, den er nicht identifizieren konnte. Einige Sekunden wartete er reglos, hörte aber nur das gleichmäßige Fallen der Tropfen und den gedämpften Lärm des Spiels draußen auf dem Platz.
    Er wollte gerade hinausgehen, als er sich plötzlich sicher war, einen menschlichen Laut vernommen zu haben – ein Seufzen, unterdrücktes Keuchen oder ein Flüstern. Er wartete mit angehaltenem Atem. Wieder hörte er nur das tropfende Wasser und den dumpfen Lärm vom Spielfeld. Ohne dass er hätte sagen können, warum, beschloss er, bis zum Ende des Umkleideraums zu gehen. Eine nach der anderen öffnete er die Kabinentüren. Die erste, die nächste, die dritte, die vierte. Bevor er die fünfte öffnen konnte, packte ihn eine kräftige Gestalt am Handgelenk und hielt ihn fest.
    »Renato?«, fragte der Alte, als er sich vom Schreck erholt hatte.
    Der schwarze Junge antwortete nicht, umklammerte nur weiterhin sein Handgelenk. Er trug nichts weiter als eine Sportunterhose.
    »Ich suche Renato.«
    Der Junge war groß: Der Alte musste den Kopf heben, um ihm ins Gesicht zu sehen. Ein Teenager. Der markante Kiefer und die hohen Jochbeine bildeten einen Kontrast zu seiner kurzen, feinen Nase mit den schmalen Nasenflügeln. Die eng beieinander stehenden Augen musterten ihn feindselig.
    »Renato … bist du das?«
    Statt einer Antwort packte der Junge auch sein anderes Handgelenk und trat noch dichter an ihn heran. Der undefinierbare Geruch, den er zuvor schon wahrgenommen hatte, drang ihm wieder in die Nase, nun vermischt mit dem Schweißgeruch des Jungen.
    »Bist du Renato?«
    »Ist was?«, fragte der Junge provozierend zurück.
    »Renato dos Santos?«
    »Was wollen Sie?«
    Nun war er sich sicher: Der Duft hing an dem Jungen. Ging von ihm aus.

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