Der letzte Tag der Unschuld
Schönheit. Sinnlich. Blonder als das Mädchen, das gerade hier hinausgegangen ist. Groß und schön wie eine Filmschauspielerin. Sie war vierundzwanzig. Sie kann nicht deine Schwester gewesen sein. Aparecida ist mit fünfzehn gestorben, nicht wahr, Renato? Die ermordete Frau hieß Anita. Ein Reiche-Leute-Name. Ein Weißen-Name. Sie war bekannt in dieser Stadt. Sehr bekannt. Jeder Mann wusste, wer diese Anita war. Und sie kannte viele Männer. Einer dieser Männer hat sie gehasst. Vielleicht hatte sie ihn gedemütigt. Im Bett, wer weiß? Und da hat er es ihr heimgezahlt. Er hat sie mit zwölf Messerstichen getötet. Oder mehr. Vielleicht waren es auch fünfzehn. Sechzehn? Achtzehn? Und dann hat er ihr noch eine Brust abgeschnitten. Eine ihrer schönen Brüste. Als Trophäe. Ein echtes Gemetzel. Ein abscheuliches Verbrechen. Widerwärtig. Aber dir ist das egal, was, Renato? Allen ist es egal. Und weißt du auch warum, Renato? Weil alle sie für ein Flittchen gehalten haben. Jedermanns Nutte. Und sie ist gestorben, wie ein Flittchen es verdient. Vor allem ein schwarzes Flittchen, das tut, als wäre es weiß, das sich an der Seite von …«
Der Junge sprang ihn an, packte ihn am Jackettkragen und schleuderte ihn gegen die Wand. Der Aufprall ließ den Alten aufstöhnen. Der Junge packte seinen Kopf und hielt ihn unter die Dusche. Das Wasser vernebelte seine Sicht, drang ihm in die Nase, sodass er den Mund aufreißen musste, um Luft zu bekommen, und drang ihm blubbernd in die Kehle. Er hustete, wobei er noch mehr Wasser schluckte. Er versuchte, den Griff des Jungen zu lösen, doch der hielt ihn fest. Der Alte schwankte. Seine Kehle schmerzte, ihm war, als würden seine Wangen zusammengepresst. Bei jedem Versuch, Luft zu holen, drang ihm erneut Wasser in Nase und Rachen, zwang ihn zu husten, wobei noch mehr Wasser in seine Luftröhre gelangte. Er zappelte und strampelte mit den Beinen, verlor einen seiner Schuhe, glitt auf den Bodenfliesen aus. Ihm wurde schwindelig, er versuchte, die Augen offen zu halten, aber die Wassertropfen taten ihm weh, und er konnte nichts mehr sehen. Langsam wurde ihm schwarz vor Augen. Er merkte, dass er kurz davor war, ohnmächtig zu werden. Er musste würgen, hustete, schnappte nach Luft, hustete. Ein bitterer Geschmack mischte sich ins Wasser. Der Griff seiner Hände, die die Hände des Jungen umklammert hielten, lockerte sich. Er versuchte noch, mit der Spitze des schuhlosen Fußes den Boden zu berühren, aber unter ihm schien nichts mehr zu sein. Seine Kräfte verließen ihn. Er hörte auf, sich zu wehren. Um ihn herum wurde es dunkel.
Als er wieder zu sich kam, lag er auf dem nassen Boden. Die Duschen waren abgedreht. Der Junge stand über ihn gebeugt. In Erwartung eines Schlags hob der Alte abwehrend die Arme. Der Junge fasste ihn unter dem Rücken und den Beinen, hob ihn mühelos auf und trug ihn zu einer Bank, wo er ihn absetzte. Dann verschwand er und kam mit einem Handtuch wieder. Zitternd wickelte sich der Alte hinein. Renato stand vor ihm, schweigend und nackt. Dann setzte er sich und fragte: »Was wollen Sie von mir wissen?«
6
(Der Duft nach) Lavendel
Als er aus der Umkleidekabine herauskam, war er bleich. Er suchte nach einer Zigarette, aber der gesamte Inhalt seiner Taschen war durchweicht. Eduardo und Paulo verfolgten gebannt einen Streit zwischen dem Torhüter des blauen Teams und einem Angreifer der Gelben. Trainer und Spieler beider Mannschaften versuchten den Streit zu schlichten, was die Aggressionen auf beiden Seiten aber nur erhöhte. Die Rangeleien und Beschimpfungen wurden heftiger. Von den Tribünen kamen Fans herunter, um sich ins Handgemenge zu mischen.
Der Alte verließ das Stadion allein.
Eine halbe Stunde später hatte er die Adresse gefunden, die er suchte. Das imposante zweistöckige Herrenhaus stand, wie die Nonne gesagt hatte, inmitten von nichtssagenden Neubauten, die auf dem Grundstück errichtet worden waren, das vor über hundert Jahren zu dem Landsitz gehört hatte.
Das eiserne Portal war nicht verschlossen. Er öffnete es und ging hinein, die gepflasterte Auffahrt hinauf, die so breit war, dass die Kutschen und Kaleschen der Senatoren und Barone, die sich zu Zeiten des Kaisers Dom Pedro II . hier zu Festen und Intrigen versammelten, auf ihr bequem Platz gefunden hatten.
Unter einer von Bougainvillea überwucherten Pergola glänzte eines jener schwarzen Autos, die er nur aus Zeitschriften kannte, das Luxusmodell eines europäischen Herstellers,
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