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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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kennen gelernt.«
    »Das ist weit weg von hier.«
    »Der Unterricht dort war gut. Wir haben Disziplin gelernt. Das war meinem Vater wichtig.«
    Er wandte sich zur Tür, drehte den Knauf, räusperte sich. Sein Rücken war beeindruckend breit.
    »Sollten Sie weitere Informationen benötigen, wenden Sie sich an die Polizei. Und sagen Sie dieser Schwarzen … dieser Nonne, sie soll das Gleiche tun.«
    Er schloss die Tür. Das Licht auf der Veranda erlosch.
    »Da, wo meine Großmutter herkam, sah es so aus wie hier«, sagte Paulo.
    Sie schoben ihre Räder am Straßenrand entlang. Vor ihnen erstreckte sich kilometerweit das Tal bis hin zu den schwarz schimmernden Bergen. Weiden, Wälder, eine Kaffeeplantage: langgestreckte Streifen in den unterschiedlichsten Grüntönen leuchteten in der Nachmittagssonne. Vom Wipfel eines Tibouchinabaums stieg ein Straßenfalke auf, schlug kräftig mit den Flügeln, bis er einen Luftstrom gefunden hatte, auf dem er sich über den Bach hinwegtragen ließ, der sich unter ihm dahinschlängelte. Am sandigen Ufer graste eine Ziege mit ihren Jungen.
    Eduardo sah dem Falken nach, bis dieser zwischen zwei Hügeln verschwunden war, auf denen die wenigen Bäume, die die offenbar zahlreichen Waldbrände überlebt hatten, in den Himmel ragten. Dann sah er in die entgegengesetzte Richtung. Eine Steinbrücke spannte sich in einem eleganten Bogen über die engste Stelle des Baches. Von ihr aus führte ein von prächtigen Palmen gesäumter Kiesweg bis zu einer efeubewachsenen Mauer, hinter der sich ein Garten den Hügel hinauf zog. An der höchsten Stelle thronte ein dreistöckiges, weiß gekalktes Herrenhaus. Das Erdgeschoss war ein großer, offener Raum, in dem zwei Karren standen; Sättel und Reitzeug lagen neben aufgestapelten Säcken. Eine Frau fegte die Treppe, die zum ersten Stock hinaufführte. Die Fenster des obersten Stockwerks – blaue Läden und gelbe Fensterrahmen – waren geschlossen. Es waren viele. Eduardo begann zu zählen: zwei, drei, fünf, acht …
    »Ich habe noch nie ein Haus mit so vielen Fenstern gesehen«, sagte er, nachdem er das Zählen aufgegeben hatte. »Wie viele Zimmer sind das wohl? Wer wohnt da? Ist deine Großmutter dort geboren?«
    »Da wohnt niemand mehr. Das war die Fazenda der Familie Marques Torres.«
    »Du hast gesagt, deine Großmutter …«
    »Meine Großmutter war Landarbeiterin.«
    »Landarbeiterin?«
    »Wäscherin. Nennt man das in São Paulo nicht so?«
    »Das weiß ich nicht mehr.«
    »Sie war Landarbeiterin. Bevor sie vom Land weggezogen ist, um in der Textilfabrik zu arbeiten.«
    »Ich dachte, deine Mutter wäre diejenige gewesen, die in der Textilfabrik gearbeitet hat.«
    »Die auch. Bevor sie geheiratet hat. Bevor meine Großmutter gestorben ist.«
    »Und deine Verwandten? Wo leben die?«
    »Ich weiß es nicht. Mein Vater redet nicht darüber.«
    »Deinem Bruder erzählt er es sicher.«
    »Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt Verwandte habe. Ich weiß nur das von meiner Großmutter.«
    »Jeder hat Verwandte. Einen Cousin, einen Onkel … Irgendjemanden.«
    »Ich habe nie jemanden gesehen. Gehen wir!«
    Paulo bestieg sein Fahrrad und trat in die Pedale, ließ sich aber kurz darauf den Pfad zur Brücke hinunterrollen. Eduardo folgte ihm.
    Als sie am Herrenhaus ankamen, hielt die Frau mit Fegen inne, um sich ihre Fragen anzuhören. Dann zeigte sie über den Bach auf eine Stelle jenseits der Kaffeeplantage.
    Sie durchquerten die Pflanzung zwischen zwei Reihen Kaffeebäumen. Eduardo, der die Pflanzen nur von Fotos kannte, staunte, wie hoch sie waren.
    Schließlich kamen sie auf einem Pfad heraus. Ochsenkarren hatten tiefe Furchen in den harten Lehm gegraben. Spuren von Autoreifen waren nicht zu sehen. Während der Regenzeit, die im Juni begann, im darauffolgenden Monat von einer Dürre abgelöst wurde und im August wiederkehrte, kam hier nicht einmal ein Jeep durch.
    Sie folgten dem Pfad, schoben die Räder den Hang hinauf und fuhren auf der anderen Seite, durch Schlaglöcher rumpelnd, wieder hinunter, quer über eine Weide voll regloser Kühe. Sie schienen die beiden einzigen menschlichen Wesen weit und breit zu sein. Die untergehende Sonne tauchte alles in ein orangefarbenes melancholisches Licht. Eduardo, das Stadtkind, konnte sich nicht vorstellen, wie man inmitten von so viel Stille leben konnte. Mehr um das Schweigen zu durchbrechen, als aus wirklicher Neugier, fragte er: »Kam sie von dieser Fazenda?«
    »Wer?«
    »Deine

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