Der letzte Tag der Unschuld
das seit neuestem auch in Brasilien gebaut wurde. Die hohen, spitzen Heckflossen liefen in große, senkrechte Rücklichter aus. Der Stil, futuristisch wie eine Zeichnung aus einem Comicstrip, versuchte an die Pracht vergangener Tage anzuknüpfen: Die silbernen Felgen bestanden aus dünnen Stäben wie bei den Reifen eines Cabriolets.
Prüfend legte er die Hände neben dem silbernen, reliefartigen Schriftzug »Simca Chambord« auf die Kühlerhaube. Sie war kalt.
Er ging weiter bis zu der von Säulen umgebenen Veranda. Nirgendwo brannte Licht. Er stieg die fünf Stufen zu der Tür hoch, die ihm der Haupteingang zu sein schien, und suchte nach der Klingel. Vergebens. Er klopfte, doch niemand kam. Auch ein zweiter Versuch blieb erfolglos. Gerade wollte er ein drittes Mal klopfen, da öffnete sich links von ihm eine Tür. Lichtschein fiel ihm in den Rücken. Noch bevor er sich umdrehte, roch er den Lavendelduft.
Das Mädchen zuckte leicht, fast unmerklich zusammen. Sie trug eine andere Bluse und einen anderen Rock, und ihr Haar war offen. Dennoch und obwohl er sie nur ganz kurz gesehen hatte, erkannte er sie sofort wieder. In der Umkleide hatte er nicht gesehen, dass sie größer war als er. Und ihre weiblichen Rundungen hatte er auch nicht bemerkt.
»Ich hätte gerne den Bürgermeister gesprochen.«
Ihre vollen Lippen öffneten sich leicht. Sie warf einen raschen Blick zurück ins Zimmer, dann waren ihre eng beieinander stehenden, dunklen Augen wieder auf ihn gerichtet.
»Mein Vater ist nicht zu Hause.«
»Sein Wagen steht da unten.«
Sie wich zurück und legte die Hand auf den Türknauf.
»Mein Vater ist beschäftigt.«
»Ich muss ihn sprechen.«
»Ich weiß nicht, ob er Sie empfangen kann.«
»Bitte melden Sie Doutor Torres, dass ich da bin.«
»Mein Vater hat keine …«
Das Licht über der Tür ging an. Er blinzelte geblendet. Dann bemerkte er hinter dem Mädchen eine Frau mit hochgestecktem Haar und strenger Miene.
»Was gibt es, Herzchen?«
Ihr Tonfall klang gebieterisch.
»Hier ist ein Herr …«, das Mädchen nahm die Hand vom Türknauf, um auf ihn zu zeigen, und ließ die Mutter vorbei, »der Papa sprechen will.«
Die Frau trat näher an ihn heran. Sie war unscheinbar, aber makellos gekleidet, und ihr zartes Gesicht war ungeschminkt. Sie musste um die vierzig sein.
»Guten Abend. Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Rund um ihre Augen entdeckte er kleine Fältchen. Sie lächelte mit kaum gehobenen Mundwinkeln, ein Lächeln, wie es Politikergattinnen auf Zuschauertribünen einstudieren und bei Einweihungen, Ehrungen und Besuchen sozialer Einrichtungen aufsetzen.
»Ich muss den Bürgermeister sprechen.«
»Ich bin Isabel Marques Torres, seine Frau, Sie können mit mir sprechen. Ich leite es dann weiter.«
Mit einer sachten Bewegung legte sie eine Hand über die andere.
»Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit.«
»Mein Mann war müde, als er nach Hause kam. Er hat sich schon hingelegt.«
»Es ist ziemlich dringend.«
»Bedauere, heute Abend geht es nicht.«
»Ich muss ihn wirklich sprechen.«
»Es ist besser, Sie kommen morgen wieder.«
»Es geht um … Ich bin der Anwalt von …« Verzweifelt überlegte er, welchen Namen er anführen könnte. »Ich wurde beauftragt …«
»Morgen können Sie …«
»Ich muss mit ihm über den Mord an der Frau des Zahnarztes sprechen.«
Ihr Lächeln erstarb.
»Cecília«, sagte sie, ohne den Alten aus den Augen zu lassen. »Geh ins Haus.«
»Möchtest du … soll ich Papa holen?«
»Das ist nicht nötig. Geh auf dein Zimmer. Es ist schon spät.«
Isabel Marques Torres wartete, bis ihre Tochter verschwunden war.
»Cecília ist zutiefst schockiert über das, was geschehen ist. Wir alle sind es. Es ist eine unangenehme Geschichte, eine Angelegenheit …«
»Ein Mord«, verbesserte er.
»Ja, in der Tat! Und dass das ausgerechnet im Amtsbereich meines Mannes geschehen muss! Das macht ihm sehr zu schaffen. Ich bin mir sicher, es ist besser, wenn Sie zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen.«
»Ich muss aber unbedingt jetzt mit Doutor Torres sprechen.«
»Marques Torres. Unser vollständiger Familienname ist Marques Torres. Zum Glück hat die örtliche Polizei die Angelegenheit ja schon geregelt, ganz allein, ohne die Polizei aus der Hauptstadt zu Hilfe rufen zu müssen. Der Fall ist abgeschlossen.«
»Das ist er nicht.«
»Wie bitte?«
»Ich komme im Auftrag der Familie der Ermordeten«, erklärte er geistesgegenwärtig,
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