Der letzte Tag der Unschuld
gesagt, dass Sie die Einzige sind, die das weiß. Sie sind die Einzige, die etwas darüber berichten kann. Die Einzige, die Bescheid weiß. Sie wissen, was mit Aparecida geschehen ist. Was man mit Elzas Tochter angestellt hat. Nur Sie allein können uns alles über Aparecida erzählen. Alles. Alles, was … Was …«
Eduardo ertrug Madalenas Schweigen nicht länger. Er fragte:
»War Aparecidas Vater der Großgrundbesitzer? War es Senator Marques Torres?«
Paulo warf ihm einen tadelnden Blick zu. Madalena rührte sich noch immer nicht. Der Junge mit den Ameisen brachte eine brennende Kerosinlampe herein, stellte sie auf der Feuerstelle ab und ging wieder hinaus.
»Sie erinnert sich nicht, Paulo. Das bringt nichts. Lass uns gehen.«
Paulo antwortete nicht. Er beugte sich über die Pritsche, noch näher an Madalena heran, und legte seinen Arm um ihren Kopf. Im Dämmerlicht konnte Eduardo sein Gesicht nicht erkennen, doch Paulo schien das Gesicht der Alten fast zu berühren. Nein, nicht fast: Er berührte es. Die Geste überraschte ihn ebenso sehr wie die Sanftheit, mit der sein Freund zu der Frau sprach. Dann fiel es ihm ein: Die Frau, die da vor ihm lag, ohne Bettdecke, so dürr, dass sich die Knochen unter ihren Kleidern abzeichneten, hätte Paulos Großmutter sein können, wenn diese nicht vor dem Landleben geflohen wäre und Arbeit in einer Weberei in der Stadt gefunden hätte. Und Paulo, dieser Junge, der neben der alten, schwarzen, hilflosen, sterbenden Frau in einer Hütte mitten im Nirgendwo kniete, hätte vielleicht, ganz vielleicht, Madalenas Enkel sein können, wenn sie irgendwann einmal den Mut, die Entschlossenheit oder das Glück gehabt hätte, ihre Lebensumstände zu ändern.
Paulo sprach jetzt so leise, dass Eduardo selbst auf dem beengten Raum Mühe hatte, ihn zu verstehen. Er klang nicht wie der Junge, den er kannte. Er wirkte … wie ein anderer Mensch. Fast wie ein … Erwachsener. Sie erinnern sich doch, Dona Madalena, wiederholte er unablässig, nicht wahr, Sie erinnern sich? Ich weiß, dass Sie sich erinnern, sagte er. Ich weiß nicht, warum Sie nicht darüber reden wollen, aber ich bin sicher, dass Sie sich erinnern, sagte er, als würde er sie schon lange kennen. Er sagte zu der Frau: Sie haben Aparecida mitgenommen, Ihre Enkelin, sie haben sie mitgenommen, und Sie konnten nichts dagegen tun. Sie war sehr hellhäutig, zu hellhäutig, hellhäutig wie ihr Vater, glaubte Eduardo Paulo flüstern zu hören. Sie mussten zulassen, dass sie sie mitnahmen. Sie konnte nicht hierbleiben. Das Mädchen. Es durfte nicht. Sie haben es nicht erlaubt. Sie haben sie mitgenommen, sagte er. Als Ihre Tochter Elza zwölf war. So alt wie ich. Und dann hat Elza noch ein Kind bekommen. Einen Jungen. Renato. Erinnern Sie sich?, fragte er, erinnern Sie sich? Einen Jungen. Dunkler als Aparecida. Den haben sie auch weggebracht. Und dann ist Ihre Tochter Elza, die Mutter der Kinder, sagte Paulo, nun immer zögerlicher, auch weggegangen. Wollte sie fortgehen, Dona Madalena? Oder haben sie sie fortgeschickt? Ist sie weggelaufen? Verschwunden? Und Sie haben nie wieder von ihr gehört? Was haben sie mit ihr gemacht, Dona Madalena? Wissen Sie es? Wissen Sie es, Dona Madalena? Was haben sie mit Elza gemacht, wissen Sie das? Erinnern Sie sich? Erinnern Sie sich?
Eduardo sah etwas in Madalenas Augen aufblitzen. Es sah aus wie eine Träne. Aber er war sich nicht sicher. Inzwischen war draußen die Nacht hereingebrochen. Um sie herum zuckten Schatten im flackernden Schein der Lampe über die Wände.
Madalena hob mühsam die Hand zu Paulos Gesicht. Sie schien ihn streicheln zu wollen. Aber sie berührte ihn nicht. Einen Moment lang hielt sie die Hand leicht zitternd in der Luft, dann ließ sie sie fallen und drehte das Gesicht zur Wand.
Paulo stand auf. Er wandte Eduardo den Rücken zu. Mit gesenktem Kopf ging er an ihm vorbei zur Tür und sagte: »Gehen wir.«
Einen Augenblick lang mischte sich Donner unter das Sirenengeheul. Dann tauchte in der Ferne, über den Bergen, ein neuer Blitz die Nacht in weißes Licht, sodass man die dicken Regenwolken sehen konnte, die rasch auf die Stadt zurollten. Der Donner klang näher, und andere folgten ihm, näher und näher, während das Heulen der Sirene den Arbeitern der Textilfabrik União & Progresso das Schichtende verkündete. Ein Wind, der aus allen Richtungen zugleich zu kommen schien, wirbelte den Staub auf, riss auf seinem Weg die Blätter von den Bäumen und ließ sie durch
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