Der letzte Tag der Unschuld
die Luft tanzen, rüttelte an dem Schild »Eröffnet 1890«, wenn er sich im Schnabel des bemalten Zementadlers verfing. Die großen eisernen Doppeltüren unter dem Adler schwangen auf.
Als Erster kam ein Mann in einem grauen Overall und Holzpantinen heraus. Er schob ein Fahrrad. An der Straße angekommen, stieg er auf und radelte davon. Ihm folgten, Schub um Schub, Gruppen von Männern und Frauen, alle in der gleichen Arbeitskleidung und den gleichen Pantinen, mit den gleichen erschöpften Gesichtern. Sie hätten den Sonntag zu Hause verbringen können, doch sie hatten ihre Wochenendruhe lieber gegen eine Sonderzahlung eingetauscht, gegen Überstunden, einen zusätzlichen Arbeitstag: Kilometerlange Jeansstoffbahnen waren vonnöten, um die Arbeitskleidung für die Millionen Brasilianer fertigen zu können, die die Felder und Savannen im Nordosten verließen und in die Fabriken strömten, die überall im Südosten aus dem Boden schossen.
Wer ein Fahrrad dabeihatte, radelte nicht etwa direkt aus der Fabrik heraus, sondern stieg erst hinter dem Tor auf, auf dem Kopfsteinpflaster außerhalb des Fabrikgeländes, wie von der Direktion angeordnet. Alle schienen es eilig zu haben wegzukommen, und mit jedem Donnerschlag radelten sie schneller. Als die Sirene verstummte und die Fabriktore sich schlossen, war kaum noch einer von ihnen zu sehen.
Der Alte wartete weiter.
Jetzt war die Straße menschenleer. Der Wind wurde kälter und kam in unregelmäßigen Böen. Einige Papierfetzen tanzten vor ihm in einem Staubwirbel und wurden dann mit anderem Schmutz, Steinchen und Blättern davongetragen. Die dicken Regenwolken hingen immer tiefer und kamen immer näher.
Dann schwangen die Torflügel wieder auf. Das Licht zweier Scheinwerfer traf seine Augen, und einen Moment lang war er geblendet. Er hörte das Brummen eines Motors und konnte nur mit Mühe einen schwarzen, kantigen Wagen erkennen, der die Fabrik bereits verlassen hatte und nun langsam davonfahren wollte.
Er trat ihm in den Weg, stolperte, wurde wieder von den Scheinwerfern geblendet, als Bremsenquietschen ihm zeigte, dass der Wagen jäh gestoppt hatte. Auch als er seine Augen mit der Hand abschirmte, konnte er kaum etwas sehen. Am Kotflügel entlang tastete er sich zu dem Mann hinter dem Lenkrad vor.
»Doutor Geraldo?«
Er sah nur eine Silhouette auf dem Fahrersitz.
»Doutor Geraldo Bastos?«
Die massig wirkende Silhouette nickte.
»Ich bin Basílio Gomes. Rechtsanwalt. Könnte ich Sie einen Augenblick sprechen?«
Ein großer Mann. Mit Brille, Arbeitskittel und Krawatte.
»Ich wollte Sie nicht in der Fabrik behelligen.«
Ein weißer gestärkter Kittel mit auf die Brusttasche gestickten Initialen, darunter ein weißes Hemd mit ebenfalls gestärktem Kragen, an der Krawatte die goldene Anstecknadel irgendeines nordamerikanischen Clubs: Jetzt sah er alles deutlich.
»Ich hielt es nicht für angemessen, die Angelegenheit vor Ihren Arbeitern zu besprechen.«
Der Motor dröhnte lauter. Der Mann trat mehrmals hintereinander aufs Gaspedal, ohne loszufahren.
»Es geht um Anita.«
Die blauen Augen hinter der ovalen Brille mit Goldrand glitten über die leere Straße und richteten sich schließlich auf den Alten.
»Ich bin auf dem Weg nach Hause«, sagte der Mann gereizt. »Es ist schon spät. Meine Familie erwartet mich zum Abendessen.«
»Wir können uns während der Fahrt unterhalten. Ich gehe dann zu Fuß zurück.«
»Ich wohne weit weg von hier. Wir können ein anderes Mal miteinander sprechen.«
»Wenn Sie möchten«, antwortete der Alte so ruhig, wie er konnte, »komme ich morgen zu Ihnen nach Hause und warte dort auf Sie.«
Geraldo Bastos zögerte. Er sah zur Fabrik zurück. Dann griff er nach der Aktentasche, die neben ihm lag, und verstaute sie auf der Rückbank. Ohne den weißhaarigen Mann anzusehen, beugte er sich nach rechts und öffnete die Tür.
Der Alte ging um den Wagen herum, stieg ein und setzte sich. Der Wagen fuhr los.
Der Mann fuhr langsam, ohne nach rechts oder links zu sehen, um die Praça Tenente Valladares herum. Ein klapperdürrer Straßenköter trottete zum Musikpavillon hinüber. Der Wind und der drohende Regen hatten die Straßen leergefegt.
Im Auto musterte der Alte das moderne Armaturenbrett und atmete, gegen seinen Willen entzückt, den Duft nach neuem Leder ein.
»Hübscher Wagen«, sagte er in aufrichtiger Bewunderung.
»Aero-Willys. Brasilianisches Produkt«, erklärte Geraldo Bastos kurz angebunden.
»Ich habe am
Weitere Kostenlose Bücher