Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
Vom Netzwerk:
Großmutter.«
    »Nein.«
    »Woher denn dann?«
    »Irgendwo hier aus der Nähe.«
    »Woher denn genau?«
    »Weiß nicht.«
    »Ist sie als Einzige weggegangen? Sind ihre Geschwister geblieben? Und ihre Eltern?«
    »Ich weiß nicht, ob sie Geschwister hatte.«
    »Und dein Großvater?«
    »Ich weiß nicht, woher der kam. Er ist vor meiner Großmutter gestorben. Ich habe ihn nicht kennen gelernt.«
    »Also war deine Mutter eine Halbwaise?«
    »Das muss das Haus sein«, sagte Paulo und deutete auf einen fernen Punkt mitten in der Einöde.
    Sie fuhren schneller. Auf dem holperigen Pfad brauchten sie länger als erwartet, um die Lehmhütte zu erreichen. Ein schwarzer Junge, jünger als sie, stocherte mit einem Bambusstab in einem Zug Ameisen, der über die rote Erde lief.
    »Ist das das Haus von Dona Madalena?«, fragte Paulo.
    Der Junge nickte.
    »Ist sie da? Wir wollen mit ihr reden.«
    Der Junge ließ die Ameisen in Ruhe, ging, den Stock in der Hand, zur Tür und bedeutete ihnen einzutreten.
    Es gab nur einen Raum. Winzig. Dunkel. Die Wände rußgeschwärzt. Kein Stuhl und kein Tisch. Auch kein Schrank. Auf der erloschenen Feuerstelle stand ein Tontopf. Was da wohl drin war? Was essen diese Leute? Was haben sie überhaupt zu essen?, fragte sich Eduardo, der nie zuvor in einer so ärmlichen Behausung gewesen war.
    Das spärliche Spätnachmittagslicht drang durch das einzige Fenster herein, dessen eine Hälfte mit einem Stück Pappkarton abgedunkelt war. Nur mit Mühe konnte man in einer Ecke eine Pritsche erkennen, auf der eine ausgemergelte Frau lag.
    »Dona Madalena?«
    Beim Klang von Paulos Stimme öffnete sie die Augen. Sie brauchte einen Augenblick, bis sie ihren Blick auf die Jungen fokussiert hatte, schien sie aber nicht zu sehen. Sie gab keinen Laut von sich, rührte sich nicht. Auch die beiden Jungen hielten ganz still, für ein paar Sekunden bloß, aber Eduardo war unwohl zumute. Er wollte nur weg von hier, ohne dass er hätte sagen können, warum. Dann fiel ihm ein, wo er einmal vor vielen Jahren eine ähnliche Stille erlebt und einen ähnlichen Blick auf sich gerichtet gefühlt hatte: bei seinem Großvater, dem Nonno , im Krankenhaus, kurz bevor der gestorben war.
    »Dona Madalena?«, wiederholte Paulo, trat an die Pritsche und kauerte sich neben sie.
    Eduardo folgte ihm, blieb aber stehen. Seine Beklommenheit wuchs.
    »Dona Madalena …«, sagte Paulo so sanft, wie Eduardo ihn nie zuvor erlebt hatte. »Ihr Enkel hat gesagt, wir sollen zu Ihnen kommen.«
    Der Junge mit den Ameisen ging leise hinaus.
    Paulo wartete. Nichts geschah. Er sagte: »Renato.«
    »Ihr Enkel Renato«, fügte Eduardo hinzu.
    Sah sie sie wirklich an? Nahm sie sie überhaupt wahr? Verstand sie, was sie sagten?
    »Renato«, wiederholte Paulo. »Der Sohn Ihrer Tochter Elza.«
    Eine schwache Kopfbewegung, die Paulo als Zustimmung nahm.
    »Renato hat gesagt, Sie könnten es wissen.«
    Eduardo riss der Geduldsfaden. Er wollte, dass Paulo endlich die Fragen stellte, die der Alte ihnen eingeschärft hatte. Er wollte so schnell wie möglich von hier verschwinden. Also schaltete er sich ein:
    »Ihre Tochter Elza hatte vor Renato schon ein Mädchen, nicht wahr? Fünf Jahre vorher? Frag sie, Paulo!«
    Paulo holte tief Luft.
    »Ihr Enkel. Renato. Er hat gesagt, wir sollen zu Ihnen kommen«, begann er wieder von vorne, die richtigen Worte suchend. »Ihre Tochter Elza hatte vor Renato schon ein Mädchen.«
    »1937«, warf Eduardo ein.
    »Erinnern Sie sich, Dona Madalena? Ein Mädchen. Hellhäutig. Sehr hellhäutig.«
    »Am 15. Mai 1937. Sie wurde unter dem Namen Aparecida registriert. Dos Santos. Sag’s ihr, Paulo.«
    »Aparecida dos Santos, erinnern Sie sich?«
    Eduardo glaubte zu sehen, dass die Frau versuchte, verneinend den Kopf zu schütteln. Es gelang ihr nicht. Er beharrte:
    »Aparecida. Die Tochter Ihrer Tochter.«
    »Die Mutter des Mädchens … Ihre Tochter Elza … Die war damals zwölf. Aparecidas Mutter. Sie war zwölf, als …«
    Madalenas Miene war ausdruckslos.
    »Ihre Enkelin wurde gleich nach der Geburt ins Waisenhaus gebracht«, fiel Eduardo seinem Freund ins Wort.
    »Ihre Enkelin Aparecida.«
    »Erinnern Sie sich? Erinnern Sie sich?«
    Paulo näherte sich Madalenas Gesicht. Er flüsterte ihr ins Ohr:
    »Ihre Tochter Elza. Elza war zwölf, als … als sie … das Kind bekam. Das Kind wurde fortgebracht. Ihre Enkelin. Aparecida. Aparecida wurde ins Waisenhaus gebracht. Ihr Enkel … Elzas anderes Kind … Ihr Enkel Renato hat

Weitere Kostenlose Bücher