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Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
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sehen. Sie fuhren einen Hügel hinauf, den er nicht erkannte.
    »Glauben Sie, der Ehemann hat jemanden beauftragt?«
    »Das habe ich nicht gesagt.«
    »Sagten Sie nicht, seine Ehre sei durch die Tat eines anderen reingewaschen worden?«
    »Ich sagte, dass Doktor Andrade das Verbrechen benutzt hat, um so zu tun, als hätte er seinen Ruf als Hahnrei der Stadt endgültig loswerden wollen.«
    »Und warum sollte ein Fremder sie töten?«
    »Sie wurde tot in einem Gestrüpp gefunden, abgestochen wie ein Schwein. Was macht es da schon, ob es ein Irrer, ein Bettler, ein durchreisender Vertreter oder ein Psychopath war?«
    »Es gibt einen Verbrecher, der frei herumläuft.«
    »Diese Frau war eine Schlampe. Eine Hure. Kalt, verdorben, ohne Kinderstube, ohne moralische Werte. Bei diesem Lebenswandel musste sie ja so enden. Sagen Sie mal ehrlich: Welchen Unterschied macht es für die Stadt, dass es diese Frau nicht mehr gibt?«
    »Dona Anita …«
    »Keinen. Sie fehlt niemandem. Im Gegenteil: Die Gesellschaft ist ohne sie sogar besser dran.«
    »Sie wurde brutal abgeschlachtet.«
    »Es ist eine Läuterung.«
    »Verstümmelt.«
    »Sind Sie religiös?«
    »Ob ich was bin?«
    »Dunkelheit oder Licht. Wir müssen wählen. Das zeigen uns alle Religionen. Der freie Wille. Mit ihm wurden wir erschaffen. Arm oder Reich, Schwarz oder Weiß, Mann oder Frau. Jedes menschliche Wesen hat die Wahl. Es gibt Frauen, die wählen die Hingabe an die Familie, die Treue zu dem Mann, der sie beschützt und ihnen Kinder schenkt, der ihnen ein Heim und seinen Namen gibt. Diese Frauen schaffen eine bessere Welt. Sie sind eine Zierde der Gesellschaft. Und es gibt andere. Frauen wie Anita.«
    »Sie haben mehrere Frauen von ihrer Sorte kennen gelernt.«
    »Wie jeder Mann. Dazu sind Frauen wie sie da.«
    Die Übelkeit wurde stärker, stieg ihm als ätzende Flüssigkeit die Kehle hoch.
    »Könnten Sie bitte hier anhalten?«
    »Und Sie? Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten nie mit Abschaum wie ihr verkehrt?«
    »Ich muss aussteigen. Bitte halten Sie an.«
    »Haben Sie Frauen wie Anita nicht benutzt?«
    »Ich will raus.«
    »Würden Sie Anita nicht benutzen, wenn Sie nicht zu alt dazu wären?«
    »Halten Sie hier. Halten Sie!«
    Der Wagen war noch nicht vollständig zum Stillstand gekommen, als er die Tür aufriss und hinaussprang. Der Strahl von Erbrochenem platschte auf das Pflaster und mischte sich mit dem Regen im Rinnstein.
    Er stand auf der menschenleeren Straße, mitten im Regen, und sah zu, wie der schwarze Wagen davonfuhr, bis er hinter dem dichten Wasservorhang verschwunden war. Er konnte sich nicht rühren. Die eisigen Tropfen liefen ihm in den Kragen und ließen ihn frösteln.
    Ein Blitz zerriss den Himmel, gefolgt von einem gewaltigen Donnerschlag. Er versuchte, seine Knie unter Kontrolle zu bekommen, sie zitterten, vielleicht vor Kälte, vielleicht vor Wut. Schließlich hob er ein Bein, dann das andere, und trottete mit hängendem Kopf davon.
    Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wo er war.

7
    Aus wie vielen Madalenas besteht die Welt?
    Einen Fuß vor den anderen setzend, maß Eduardo das Zimmer aus und versuchte dabei, sich zu erinnern, wie groß das Haus von Dona Madalena gewesen war. Er hatte sich nur kurz dort aufgehalten, noch dazu im Dunkeln, aber seine Erinnerung bestätigte ihm: Sein Zimmer war größer als die ganze Hütte. Wirklich? Ja. Nein. Das konnte nicht sein.
    Er erstellte ein Inventar der Möbel um ihn herum. Bett, Nachttisch, Schrank, Garderobe, Schreibtisch, Regal, Stuhl. Mehr als dreimal so viele Möbel wie dort. Und das, ohne die Gebrauchsgegenstände mitzurechnen. Bleistift, Füllfederhalter, Hefte, Tintenfass, Radiergummi, Lineal. Das Glas, in dem Füller und Bleistifte standen. Klebstofftube, Bücher, ein Bild mit einem Schutzengel, die Urkunde seiner Erstkommunion. Kruzifix. Teppich. Bettlaken, Kissenbezug, Matratze, Decke. Kopfkissen. Nachttischlampe.
    In ihrem Haus konnte er sich nur an den Topf auf der Feuerstelle erinnern. Mehr hatte er nicht gesehen. Natürlich hatte es dort mehr gegeben. Es musste mehr gegeben haben. Es konnte ja gar nicht sein, dass jemand mit so wenig lebte. Und der Junge? Wo schlief der, wenn es nur das eine Bett gab, in dem Dona Madalena lag? Schliefen sie zusammen? Oder hatte er eine mit getrockneten Bananenblättern gefüllte Matratze, die man auf dem Boden auslegen konnte? Auf dem Lehmboden. So ein Lehmboden ist kalt. Vielleicht gab es noch eine Matratze. Wirklich? Und ein Kopfkissen? Ob

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