Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der letzte Tag der Unschuld

Der letzte Tag der Unschuld

Titel: Der letzte Tag der Unschuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edney Silvestre
Vom Netzwerk:
weiblicher Name mehr verzeichnet.
    Ratlos wanderte er in der Krypta auf und ab. Auf beiden Deckplatten der Grabnischen für Vicente und André fand sich der gleiche Satz: »In ewiger Trauer, deine Eltern Adriano und Isabel.« Die Zwillinge waren also die Söhne von Bürgermeister Marques Torres gewesen. Der eine war bei der Geburt gestorben, der andere im Alter von zwei Jahren. Mit ihnen war der Familienname erloschen.
    Unter der Nische der Zwillinge gähnte eine rechteckige Höhlung. Er bückte sich und sah hinein. Es war eine weitere Nische. Von ein paar Marmor- und Zementbrocken abgesehen, war sie leer.
    Die linke Hand auf die Deckplatte des größten Grabes gestützt, richtete er sich auf. Er spürte einen Stich im Lendenwirbel, ein Anzeichen dafür, dass die Rückenschmerzen wieder begannen. Er reckte sich, hob die Arme. Manchmal half dieser Trick, die Wirbelsäule dehnte sich, und die Beschwerden verschwanden. Dieses Mal nicht. Er seufzte. Langsam wurde er müde.
    Die Sonne war weitergezogen und warf nun einen gelben Streifen auf die hintere Wand. Von da, wo er stand, waren die Namen unleserlich, nichts weiter als schimmernde Metallstreifen in gleichmäßigen Abständen, ein Toter, darunter noch einer und noch einer … Dann bemerkte er die Lücke, die die Harmonie störte, ein größerer Abstand zwischen dem Namen des Senators und dem seines Enkels Vicente.
    Er trat näher. Im Marmor waren kleine Löcher. Zwischen ihnen feine Linien. Es konnten Buchstaben sein. Womöglich war hier ein Name entfernt worden. Und Daten. Er ging ganz nah heran. Die vagen Umrisse ließen die Zahlen 1, 9 und 5 erahnen. Neunzehnhundert…? Die vierte Ziffer war nur schwer zu erkennen. Es konnte eine 7 sein. Oder eine 2. 1952, erinnerte er sich, war das Jahr, in dem Aparecida geheiratet hatte.
    Er zog den Draht aus der Tasche und begann, am Stein über den Zahlen zu kratzen. Allmählich traten die Buchstaben hervor. Erst ein C … dann ein L … dann ein E … und zuletzt ein A. Cléa? Wer mochte Cléa gewesen sein?
    Dann verstand er, was er falsch gemacht hatte.
    Als er die beinahe unsichtbare Linie in der Mitte des C sorgfältig freilegte und die ursprünglichen Linien des Z mit der Drahtspitze nachzog, fand er bestätigt, was die Nonnen ihm verraten hatten, die Vergangenheit, die die noch lebenden Marques Torres aus ihrem Grab, ihrer Geschichte und ihren Leben löschen wollten. Elza. Aparecidas Mutter.

9
    Mao, Schneewittchen und eine andere Anita
    Im goldenen Licht des Nachmittags, das ihre langen Schatten auf das Kopfsteinpflaster warf, gingen sie die Straße entlang, schweigend, weil sie nicht wussten, was sie einander sagen sollten. Der eine Junge schob sein zerbeultes Fahrrad neben sich her und überlegte verzweifelt, wie er es anstellen sollte, damit weder sein Bruder noch sein Vater das Fahrrad zu sehen bekamen, bevor er es wenigstens ein klein wenig geradegebogen hatte. Der andere schob sein Rad aus Solidarität ebenfalls und machte zum ersten Mal in seinem Leben die möglicherweise befreiende, aber dennoch unangenehme Erfahrung, in aller Öffentlichkeit verdreckt wie ein Landstreicher herumzulaufen. Beide bemerkten gleichzeitig die Menschenmenge, die sich vor der Polizeiwache versammelt hatte.
    Sie drängten sich durch die Mauer aus Erwachsenen und Getuschel. Am oberen Ende der Treppe sprach ein vornehm gekleideter Mann mit dem Polizeipräsidenten, hoch aufgerichtet, die langen Arme und die Hände, in denen er einen Stapel Blätter hielt, reglos, als würde er einem Untergebenen Anweisungen erteilen. Er hatte ein markantes Gesicht, lang und bleich, mit kräftigen Kiefern und einem spitzen Kinn, und trug eine Brille mit schmalem Goldrand.
    Eduardo fiel auf, dass der gestärkte Kragen seines Hemdes blütenweiß und die dunkle, ungemusterte Krawatte zu einem perfekten Knoten geschlungen war. Darüber trug der Mann einen eleganten grauen Nadelstreifenanzug. Den Stoff, aus dem er gemacht war, hatte Eduardo schon in der Schneiderwerkstatt seiner Mutter gesehen. Es war Kaschmir. Englischer Kaschmir. Er erinnerte sich daran, wie seine Mutter mit der Hand über den leichten, kühlen Stoff gestrichen hatte. Das Gegenteil des rauen Baumwollstoffs, aus dem der Anzug des Polizeipräsidenten gemacht war. An der Kleidung erkannte man, wer der Angestellte und wer der Chef war.
    Ein Rippenstoß von Paulo riss ihn aus seinen Gedanken.
    »Kannst du hören, worüber sie reden?«
    »Nein. Er spricht zu leise. Und er ist zu weit

Weitere Kostenlose Bücher