Der letzte Tag: Roman (German Edition)
verklagen, aber verloren. Und sie verschob ihr Geld ins Ausland: in die Schweiz, nach Costa Rica und Südafrika. Für den Fall, dass sie flüchten musste. Dabei hätte sie sich überhaupt keine Sorgen machen müssen. Sie wurde überhaupt nicht überwacht. Aber sie war unzurechnungsfähig, ihre Psychose weitete sich im letzten Jahr stark aus. Und es braute sich was richtig Übles zusammen, von dem wir überhaupt nichts ahnten.
Seit Anfang 1975 gingen jeden Monat weitere Menschen dort weg. Wenn es ihnen gelang. Das war noch, bevor sie den Zaun bauten. Der Farmer, der in der Nähe der Mine lebte, fuhr die Flüchtlinge nach Yuma, zur Busstation. Die einzigen Sektenmitglieder, die wir befragen konnten, die noch kurz vor den Morden dort waren, flüchteten ungefähr zwei Monate vor dem 10. Juli. Zwei junge Frauen mit ihren Babys.«
»Martha Lake und Bridgette Clover.«
»Genau die. Gefundenes Fressen für die Journalisten. Sie waren die einzigen Zeugen, die wir hätten aufrufen können, wenn es
zu einem Prozess gekommen wäre. Sie kamen wieder nach Arizona und waren unglaublich verängstigt. Wir mussten sie unter Polizeischutz stellen. Sie bestätigten uns, dass sich in der Nacht, als die Bluttaten stattfanden, ungefähr zwanzig Personen in der Mine befanden. Wir holten fünfzehn Leute dort raus. Neun Tote und sechs Lebende. Die Überlebenden waren die fünf Kinder und Bruder Belial. Was mit den anderen fünf Sektenmitgliedern passierte, die nach den Aussagen von Lake und Clover noch dort gewesen waren, haben wir nie herausgefunden. Bruder Adonis, Bruder Ariel, Schwester Urania, Schwester Hannah und Schwester Priscilla. Entweder sind sie weggelaufen und verschwunden, oder sie wurden umgebracht und in der Wüste verscharrt, wie Martha Lake es behauptete. Die Zeugenaussagen der hundert anderen Befragten wurden schon bald verworfen oder vergessen.«
»Warum das?«
»Na ja, vor allem, weil es eine Horde durchgeknallter Hippies war, die von Stimmen in ihren Köpfen faselten und allen möglichen Blödsinn von bösen Geistern erzählten. Eben das, was man von Spinnern und Junkies und Vollidioten so erwartet. Manche behaupteten, sie wären besessen. Andere behaupteten, sie könnten fliegen oder so einen Quatsch. Sie hätten von oben aus der Luft auf ihre Körper sehen können und so weiter. Manche erklärten, ihre Seelen hätten eine Reise in die Hölle und zurück gemacht.«
Wenn es eine Wand in seiner Nähe gegeben hätte, Kyle hätte sich dagegen gelehnt.
»Und wir hatten ja den Mörder und die Tatwaffen. Außerdem ein Geständnis von Belial, das halbwegs was taugte, und den Rest haben wir uns von den Ballistik-Experten und den Forensikern zurechtbasteln lassen. Wir hatten ziemlich schnell ein recht genaues Bild von dem, was in dieser Nacht vorgefallen war. Genauer gesagt, nach einer Woche. Unsere Hauptverdächtigen waren die Sieben. Vier von ihnen wurden im Tempel tot aufgefunden. Das waren die, die sich Moloch, Baal, Chemos und Erebus nannten.
Und dann war da noch Belial. Zwei andere waren in der Mordnacht in San Francisco und hatten eindeutige Alibis. Das waren zwei Frauen: Schwester Gehenna und Schwester Bellona. Sie behaupteten, sie wären in geschäftlichen Dingen für Schwester Katherine dort gewesen.«
Kyle dachte scharf nach und überlegte sich die Frage, die ihm auf der Zunge lag, genau. Es war die Frage, die Max in seinen Notizen als sehr wichtig eingestuft hatte: »Es gab immer wieder Spekulationen darüber, dass Belial, Moloch und Baal die Morde nicht allein ausgeführt hätten. Vor allem bei den Leichen, die am Zaun lagen.«
»Sicher. Aber die anderen beiden Schützen waren ja tot. Belial hat sie getötet. Also konnten wir sie nicht befragen. Wir nahmen Fingerabdrücke von den anderen beiden Jagdgewehren, die dazu benutzt worden waren, um die Flüchtenden am Zaun zurückzuhalten oder zu erschießen. Diese Abdrücke passten zu denen von Bruder Moloch und Bruder Baal, die zu den Toten im Tempelgebäude gehörten. Das steht alles auch schon im ersten Untersuchungsbericht. Beweise gegen andere Verdächtige hatten wir in diesem Zusammenhang nicht. Nun ja, lassen Sie es mich mal so ausdrücken, der erste Ermittlungsbericht war sechsundsechzig Seiten lang. Der erste Ergänzungsbericht zur Frage möglicher Mittäter war eine Seite lang, und auf der Seite war ziemlich viel Weiß zu sehen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Aber hatten Sie je den Eindruck, dass noch andere an den Morden in dieser Nacht des
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