Der letzte Tag: Roman (German Edition)
verhindern, dass er ein dämliches Grinsen aufsetzte. »Hallo, Susan. Oder soll ich Sie lieber Schwester Isis nennen?«
Sie drehte sich abrupt zu ihm um, starrte ihn missbilligend an
und schien ihn geradezu anfallen zu wollen. Um ihren faltigen Hals hingen Ketten mit Kristallen, deren Klimpern sich mit dem klappernden Geräusch der Holzarmbänder an ihren Handgelenken vermischte. »Nennen Sie mich niemals so!«
Kyle zuckte zusammen. Die ältere Frau warf demonstrativ einen misstrauischen Blick auf das Haus, als wollte sie damit ihre heftige Reaktion auf die Nennung ihres Sektennamens entschuldigen. »Nicht hier. Bitte. Susan ist absolut in Ordnung.«
»Also dann Susan.« Kyle fasste nach ihrer kalten Hand. Die Haut fühlte sich an wie Papier und war sehr durchsichtig. Ein Netz dunkler Venen unter weichem Fleisch, aber die Haut war glatt wie Lammleder. Er schaute ihr in die strahlend blauen Augen. »Das hier ist Dan. Mein Komplize.« Er nickte Dan zu, der sich umgewandt hatte, als sein Name genannt wurde. Sein Gesicht war rot angelaufen und ihm standen Tränen in den Augen, weil er einen Lachanfall unterdrücken musste.
»Können Sie es spüren?«, fragte sie und schien wieder von der Präsenz des Gebäudes in Anspruch genommen.
So läuft der Hase also. Die übertreibt total . Er hoffte nur, dass ihm die Enttäuschung nicht allzu deutlich ins Gesicht geschrieben stand. Es war ein langweiliger Tag in einer Straße im Westen Londons, die nichts weiter ausstrahlte als Ruhe und Vornehmheit, und das sicher zu jeder Jahreszeit. Jedenfalls passte es überhaupt nicht zu dem, was Susan White da anzudeuten versuchte. Ihr Bemühen, eine Atmosphäre der Verunsicherung heraufzubeschwören und auf angebliche übersinnliche Kräfte hinzuweisen, entmutigte ihn schlagartig. Sein Vertrauen in das Talent Max Solomons, interessante Interviewpartner aufzutun, verschwand ebenfalls. Eine schräge Figur wie Susan White in den Film aufzunehmen, würde jede Glaubwürdigkeit zerstören und alle mystischen Erfahrungen der Sektenmitglieder als lächerlich entlarven. Der bloße Anblick dieser Frau repräsentierte alles, was an den Sechzigerjahren schwachsinnig gewesen war.
Kyle nickte Dan zu, um ihm zu signalisieren, dass sie von den Außenaufnahmen von Straße und Gebäude nun zu den Nahaufnahmen von Schwester Isis übergehen sollten. »Was denn spüren?«, fragte er, und es klang unwirscher, als er eigentlich beabsichtigt hatte.
Ihre silbernen Ohrringe klingelten, als sie gegen ihre übertrieben geschminkten Wangen stießen, während sie den Kopf schüttelte. »Ich … Ich habe das nicht mehr so intensiv wahrgenommen seit 1969. Wirklich eigenartig.« Sie schloss die Augen und drehte den Kopf zur Seite, als lauschte sie einer weit entfernten Musik. Das unstete Sonnenlicht fiel auf ihr Gesicht und ließ es noch hagerer erscheinen – falls das überhaupt möglich war. Die Furchen um ihren Mund vertieften sich, als ihr Kinn nach unten sackte. »Das ist das erste Mal, dass ich hierher zurückkomme.«
Kyle schaute genervt nach oben. Dan grinste und beschäftigte sich damit, mit dem Belichtungsmesser näher ans Haus zu gehen. Kyle wollte die Anfangseinstellung mit Susan neben der Eingangstür drehen. »Und Sie leben jetzt in Brighton?«
»Ja.«
»Hatten aber nie das Bedürfnis, hierher zurückzukommen?«
»Das hätte ich nicht ertragen.« Susan White hielt die Augen geschlossen, das Gesicht weiter auf das Haus gerichtet, beugte sich aber leicht schwankend nach vorn, wie eine Frau, die auf Glatteis geraten ist. Hastig, aber vorsichtig legte Kyle das Mikro und den Tonmischer beiseite und trat neben sie. Susan fasste ihn am Unterarm. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.«
Dan blickte auffordernd herüber, um herauszufinden, was Kyle nun von ihm erwartete. Aber Kyle war sich nicht im Klaren dar über, ob es in Ordnung wäre, wenn er sie in ihrer Verwirrung und Bedrängnis filmte. Sollten sie sich nicht zuerst richtig vorstellen und für eine gewisse Vertrautheit sorgen? Vielleicht auch nicht, selbst wenn er es gern gehabt hätte. Das war eigentlich kein
schlechtes Material: Zweiundvierzig Jahre nachdem die »Letzte Zusammenkunft« das Gebäude fluchtartig verlassen hatte, brach ein ehemaliges Sektenmitglied schon beim bloßen Anblick des Ortes zusammen.
Das Licht war gut, aber sie mussten ihr noch ein Mikrofon anstecken und einen Soundcheck machen, falls irgendwas Vernünftiges hierbei herauskommen sollte. Nachdem er Augenkontakt mit Kyle
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