Der letzte Tag: Roman (German Edition)
verkrampfte Faust. Und dann wieder fühlte es sich an, als öffnete sich die Hand, und seine Gedanken rieselten wie Salzkristalle heraus.
Er taumelte wie ein Untoter auf das Zentrum von Camden zu. Bewegte sich den Lichtern entgegen. Eine Weile folgte er
einer Gruppe von Menschen, zwei Paaren. Folgte ihnen bis zum Eingang eines Restaurants, in dem Gourmet-Burger angeboten wurden. Am liebsten wäre er mit ihnen eingetreten. Oder hätte die Zeit rückwärtslaufen lassen, damit er an den absolut unspektakulären Dingen teilnehmen könnte, mit denen sie sich beschäftigten – Burger essen, Bier trinken und einen unbeschwerten Abend verbringen.
Er ging sein kürzlich verflossenes Leben im Zeitraffer durch. Wie er Max zum ersten Mal in dessen Produktionsbüro begegnet war; das leere Haus in der Clarendon Road; die Fahrt mit Gabriel nach Frankreich; die Wüste; die Ranch; das Haus des Detective; die heruntergekommene Küche in Seattle … all das sah er vor sich, und alles, was zwischen diesen Punkten geschehen war, zog gleichzeitig an ihm vorbei. Er wünschte, er hätte nichts davon jemals erlebt. Wünschte sich, er könnte jede einzelne Szene dieses Films ausmerzen, von dem er einmal dachte, er würde ihm den Durchbruch bringen. Er bereute alles, was damit zusammenhing, und das Gefühl der totalen Hoffnungslosigkeit, das ihn erfasste, machte ihn so schwach, dass er kaum noch fähig war zu atmen. Die Verzweiflung lähmte ihn so sehr, dass er noch nicht mal in der Lage war, sich eine Zigarette anzuzünden.
Die Leute, denen er gefolgt war, setzten sich zum Abendessen zwischen all die anderen, die schon da waren. Das Mädchen mit dem Nasenring lachte in ihr Handy, ein Mann am Fenster las ein Buch, ein Bus mit ausdruckslosen Gesichtern rollte vorbei – sie alle lebten in einer Parallelwelt. In einer Welt, die ihm entglitten war und in die er nun nicht mehr zurückfinden konnte, selbst wenn er sich unglaublich anstrengte und abstrampelte. Alle Menschen um ihn herum lebten in einer vertrauten, sicheren und vorhersehbaren Welt. In einer Welt, die ihm völlig fremd geworden war. Er konnte nicht mehr dorthin finden, genauso wenig wie er durch einen Bildschirm schlüpfen konnte, um an einer Fernsehshow teilzunehmen. Er war ein lebendes Mahnmal für die
Leichtsinnigen, die Unbesonnenen, die allzu Ehrgeizigen und die Naiven, genau wie Malcolm Gonal, der sich hinter einer Wand aus Zeitungspapier versteckte. Deshalb hatte Bridgette Clover sich umgebracht. Sie hatte einen grauenhaften Ort betreten, von dem es kein Entrinnen gab. Kyle erschauerte und fragte sich, ob er sich vielleicht schon in einer Art Schockstarre befand.
Er löste sich von der Wand, gegen die er sich gelehnt hatte. Ein Mann ging mit seinem Hund an ihm vorbei. Er lebte in einer Welt, die Kyle nie mehr betreten würde, weder in diesem Leben noch im nächsten.
Seine Lippen bebten. Würde er jetzt sprechen, seine Stimme wäre heiser vor Selbstmitleid und Bedauern. Die skelettartigen Gestalten, die um das Schwein mit dem Zepter tanzten, fielen ihm ein. War Dan jetzt dort? Befand er sich nun inmitten der Leichen von Hunden aus dem 16. Jahrhundert, wild tanzend und irrsinnig kreischend?
Er hatte seinen besten Freund in den Tod geschickt. Wenn er Dan nicht dazu gedrängt hätte, mit nach Amerika zu kommen, würde er noch leben. »O Gott.«
Inmitten des Lichts, der Lebendigkeit und des normalen Ablaufs der Welt gehörte er einer anderen Region an. Er war ausgestoßen, weil er verbotene Dinge gesehen und dunkle Orte besucht hatte. Unbeleuchtete Fenster, Bauzäune mit Plakaten von längst vergangenen Konzerten, ein platt gedrückter Karton, in dem mal jemand die Nacht verbracht hatte. Alle Farben um ihn herum waren ausgebleicht, die Wände schmutzig, der Asphalt staubig, der kalte Wind fegte den Abfall in schattige Ecken. Niemand beachtete ihn, für die anderen war er gar nicht mehr vorhanden. Bleigewichte an unsichtbaren Fäden schienen seine Glieder nach unten zu ziehen und ebenso seine Gedanken. So fühlte sich die Welt an, wenn man gemerkt hatte, dass man am Endpunkt angelangt ist.
Dan ist fort. Tot.
Marylebone, London
25. Juni 2011, 1.10 Uhr
Der Fahrer des Taxis sah Kyle beunruhigt im Rückspiegel an, dann wandte er sich wieder ab. Kyle holte tief Luft und atmete langsam ein und aus. Es war eine unwillkürliche Reaktion auf den Gedanken, dass Dan tot war. Und darauf, dass ihn immer wieder dieser heimtückische Drang befiel, sich auszumalen, wie Dan ums
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