Der letzte Tag: Roman (German Edition)
die Blutsfreunde ein weiteres Mal zu rufen. Seine Krankheit hat die Ausführung seiner Pläne beschleunigt. Er hat sich seiner Frau entledigt, die er ohnehin nur für die Adoption gebraucht hat. Sie haben bestimmt von dem Streit ums Sorgerecht gehört. Er hat gewonnen, nachdem
er ihr anbot, sie auszuzahlen, und versprach, ihre Drogensucht nicht öffentlich zu machen. Zu diesem Zweck hat er sie in eindeutigen Situationen gefilmt, nachdem er sie in die Welt der Drogen eingeführt hatte. Es gibt nichts, was er nicht tun würde, um seine Ziele zu erreichen. Er wollte unbedingt mit diesem Kind allein sein, denn dafür gibt es gute Gründe.«
»Also brechen wir einfach dort ein und bringen einen todkranken Mann um?«
»Wenn das so einfach wäre. Schwester Gehenna und Schwester Bellona sind wesentlich schlimmere Gegenspieler als seine ehemaligen Wachleute. Außerdem ist der Tiger ein Problem.«
»Wie bitte?«
»Er hat einen bengalischen Tiger. Eine Investition, die noch aus seinen besseren Tagen stammt. Es soll da auch Schlangen geben, wurde mir gesagt. Ziemlich tödliche Haustiere.« Max grinste. »Schlangen. Wie passend. Unser Unternehmen ist also nicht ohne Risiko.«
»Jetzt haben Sie schon wieder dieses Wort benutzt, Max. ›Unser‹. Ich wäre beinahe dabei gewesen, bevor Sie den Tiger erwähnten. Ich bin draußen. Ach übrigens, wo ist Iris eigentlich?«
Max sah ihn bestürzt an. Offenbar war er zutiefst gedemütigt, dass Kyle auch nur in Erwägung zog, seine Wünsche nicht zu befolgen. »Iris?«
»Die Frau, die Ihnen Kuchen und Toast bringt. Sie war doch heute Morgen noch hier.«
»Haben Sie mich denn nicht verstanden?«
»Ich werde jetzt nach meinem Freund suchen. Mit der Polizei.«
»Katherine versucht, erneut zu inkarnieren, Kyle! Solange es ihr noch möglich ist! Bevor ihr Körper von sich aus den Geist aufgibt. Sie hat ein Kind. Wir wissen, dass das Kind dort bei ihr wohnt. Wir müssen das Kind retten!«
Kyle drückte auf die Klinke. »Dafür sollten Sie besser das Jugendamt bemühen.«
»Wenn Sie mir nicht helfen, wird das Kind sterben. Ich werde sterben. Sie werden sterben. Kyle, Sie werden noch nicht mal den nächsten Morgen erleben!« Max schlug mit dem Gehstock auf den Marmorboden. »Die Dokumentation ist der Beweis. Wir haben den Film fast fertig. Jetzt kommt noch die letzte Szene. Verstehen Sie denn nicht, Kyle? Dann ist Ihr Film fertig.«
Kyle trat hinaus und begann, die Tür hinter sich zuzuziehen. »Nein. Nein. Nein.«
»Sie hat ein Kind, Kyle! Ein Kind!«
Kyle schloss die Tür.
Max’ letzter Ausruf drang durch die Tür: »Machen Sie bloß nicht das Licht aus, Kyle! Um Gottes willen!«
West Hampstead, London
25. Juni 2011, 3.30 Uhr
»He! He, aufwachen! Wo genau muss ich denn hin?«
Kyle schreckte aus dem Schlaf, aus Träumen, in denen bellende Kinder herumwuselten. »Lasst mich«, bettelte er die Kinder an, die ihn mit rußverschmierten Gesichtern anglotzten und bellten, um das zurückzubekommen, was man ihnen weggenommen hatte. Er richtete sich auf, war wieder hellwach, aber ein Rest der Eindrücke aus seinem Traum zog noch durch sein Bewusstsein: Schwarze Gebäude unter einem gelblichen Himmel, lautes Quieken, das aus einem Schlachthof drang. Von Panik erfüllt schaute er sich um. Ein Taxi. Er saß auf dem Rücksitz eines Taxis. Er riss sich zusammen und wischte sich den Speichel vom Kinn. »Hier können Sie halten.«
Mühsam kletterte er aus dem Auto. Sein Magen schmerzte vor Hunger. Er war so müde, dass ihm schwindelte, er war völlig erledigt und fühlte sich, als hätte er eine Grippe. Die Welt um ihn herum wirkte surreal.
Am Ende des kurzen Wegs, der zur Eingangstür seines Hauses führte, sah er auf zu dem dunklen Fenster seiner Ein-Zimmer-Wohnung. Er hatte die Vorhänge nicht zugezogen, bevor er gegangen war. Wann war das gewesen? In den frühen Morgenstunden des Tages, als er nach Amerika geflogen war. So lange
her. Das musste in einem anderen Leben gewesen sein, in dem es auch bedrohlich zugegangen war, aber allemal besser als der schleichende Horror, der ihn nun umgab. Aufrecht zu stehen war schwierig. Jetzt, mitten in der Nacht, lastete all das auf ihm, was er verloren hatte und was er noch verlieren würde, genauso wie das, was er inzwischen herausgefunden hatte, und zog ihn nach unten, sodass er nur noch gebeugt dastehen konnte. Nun war er endlich wieder vor seiner Wohnung angekommen und hatte überhaupt keine Lust hineinzugehen. Ein leichter Regen nieselte
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