Der letzte Tag: Roman (German Edition)
wollten.
»Sie hat sie zu sich gerufen«, murmelte Max vor sich hin, als sie in den nächsten größeren Raum eindrangen. Da keine Schüsse zu hören waren, war hier offenbar die Luft rein.
»Scheiße, Max, wir brauchen mehr Feuerkraft. Hier oben können ja Hunderte von denen sein.« In diesem Moment drehte Kyle den Kopf, um sich das anzuschauen, was er eigentlich lieber nicht gesehen hätte. Sein erster Eindruck von dem Raum war ernüchternd. Er kniff die Augen zusammen und blickte genauer hin. Hier drin sah es aus wie in einem Museum. An den Wänden standen gläserne Vitrinen. Hinter den Scheiben erahnte er Fragmente, bräunliche Überreste, und erst da wurde ihm klar, was er hier vor sich hatte.
»Die Zeichen«, sagte Max. »Fundstücke aus der alten Zeit. Die Sachen, die Lorches Engel in St. Mayenne gesammelt haben.«
Kyle machte einen Schritt auf die nächstgelegene Vitrine zu und blickte hinein. Er sah einen grässlichen alten Schuh, klein, spitz und völlig verrußt. Daneben lag ein schmutziger Kittel, der so klein war, dass er wohl einem Kind gehört hatte. Etwas weiter entdeckte er eine von ungelenker Hand gefertigte Holzkrone, die auf weißem Papier lag, als wäre sie etwas ganz Besonderes. Er fragte sich, ob die mal Lorche gehört hatte, dem Vater der Lügen. Um sie herum lagen geschwärzte Knochen, mit Nadeln auf purpurrotem Tuch festgesteckt. Die himmlischen Briefe. Der Regen der schwarzen Knochen .
Er schaute zurück in den Korridor, der noch immer von dem schwächer werdenden Fackelschein erleuchtet wurde. Weiter entfernt zu seiner Rechten, dort wo es dunkel war, regte sich etwas, und spitze hysterische Schreie drangen zu ihm. Knochige Hände und Füße trommelten gegen eine der geschlossenen Türen. Kyle drehte sich der Magen um, wenn er sich vorstellte, mit welcher Vehemenz diese Dinger sein Gesicht bearbeiten würden, falls sie die Gelegenheit dazu bekämen. Er zielte mit seiner Pistole in diese Richtung. Am Rande des Lichtscheins erschien eine Gestalt, die dünner war als ein Verhungerter und so nackt wie ein Neugeborenes. Doch noch bevor er den ersten Pistolenschuss seines Lebens abgeben konnte, senkte das Ding den Kopf und stolperte auf krummen Beinen davon, beschmutzt und fleckig wie ein Durchfallkranker. »Die sind nach unten gegangen«, sagte Kyle zu Jed, als der aus dem Ausstellungsraum trat.
»Die sind überall. Los, kommt. Auf dem Plan waren in diesem Stockwerk weitere zehn Räume verzeichnet. Wir haben noch drei Fackeln. Dann nur noch die Taschenlampen. Jetzt machen wir denen richtig Feuer unterm Arsch, Jungs.«
Als sie ein Geräusch hörten, dass wie das Weinen eines Kindes klang, blieben sie vor dem nächsten Zimmer zögernd stehen. »Da drin ist das Kind!«, rief Max aus. »Los, aufmachen!« Jed wollte Max mit der freien Hand zurückhalten, verfehlte aber seine Schulter. »Vorsicht, Max!« Jed befühlte eine seiner Hosentaschen und zog ein Foto heraus. »Hier, der Junge. Wir müssen sichergehen, dass es der richtige Junge ist, Max. Spielberg, du bleibst draußen und sicherst den Flur!«
»Ihr könnt doch kein Kind umbringen. Das geht doch nicht!«
»Du bleibst draußen, Spielberg!«
»Arschloch!«
Max fasste nach der Türklinke und schob die Tür auf. Jed duckte sich, die Pistole im Anschlag.
Ein Kind. Ein Kind. Die dürfen doch nicht einfach ein Kind
töten. Ohne nachzudenken und angetrieben von dem verwegenen Drang, etwas zu tun, sprang Kyle Jed von hinten an und trat ihm mit voller Wucht in den Rücken. Während Kyle auf den Knien landete, sah er, wie Jed laut aufstöhnend in eine luxuriös ausgestattete Suite taumelte, die von der Fackel in Max’ Hand erleuchtet wurde. Das ganze Zimmer war lila tapeziert, in der Mitte stand ein riesiges Bett. An allen Wänden hingen gigantische Spiegel, die ihr chaotisches Eindringen mehrfach reflektierten und den Schein der Fackeln massiv verstärkten.
Das Weinen des Kindes verwandelte sich in hündisches Grollen. Max schnappte nach Luft, dann schrie er laut auf, als etwas in einem Satz über das Bett sprang und sich auf Jed stürzte. Der blieb liegen unter dem Ansturm eines bissigen Mundes, spitzer Finger und dem Knurren des Angreifers, das noch viel grauenhafter wirkte als der Anblick des geschundenen Schädels.
Jed schrie. Gefleckte Beine krallten sich in seinen Unterleib, wie die einer Katze, die ihren drängenden Hunger mit den Innereien ihrer Beute stillen will. Eine dunkle Flüssigkeit spritzte über Jeds Gesicht, während
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