Der letzte Tiger
bao day, banh bao nong day …« Die Straßenlaternen warfen ein mattes, gelbliches Licht. Unter einem Königsblumenbaum blieb Ly stehen und sah zu dem Haus hinüber, in dem die Baronin ihre Wohnung hatte. Die grünen Klappläden vor den Fenstern in der ersten Etage waren geschlossen, genauso wie am Mittag, als Ly unten im Laden gewesen war, um nach Bang und dem Grenzer zu fragen.
Vor die Glasfront des Erdgeschosses waren jetzt allerdings Gitter gezogen, die mit einem schweren Vorhängeschloss verriegelt waren. Das würde er kaum aufbrechen können. Vielleicht käme er aber über den Hinterhof in die Wohnung. Es gab da einen schmalen Durchgang, der zwischen den Häusern nach hinten führte.
Während Ly noch da stand und hinüberschaute, kamein Mann über die Straße auf ihn zu. Er hatte die Hände in den Jackentaschen vergraben. Angespannt beobachtete Ly jede seiner Bewegungen. Direkt vor ihm blieb der Mann stehen und sah ihn an. Adrenalin schoss Ly durch den Körper. Doch dann ließ der Mann nur seine Zigarette fallen, trat sie aus und ging weiter die Straße hinunter. Verflucht, dachte Ly, was war er nur so nervös?
Er wartete noch etwas, bevor er die Straßenseite wechselte und in den dunklen Gang zwischen den Häusern trat. Anfangs konnte er nichts sehen und tastete sich langsam an der Wand entlang vorwärts. Erst da, wo die höhere Hauswand aufhörte und die niedrigere Hofmauer anfing, fiel Licht ein. Ly konnte erkennen, dass oben auf der Mauerkante Glasscherben eingelassen waren.
Er zog sein Hemd aus, schnitt den Stoff mit dem Taschenmesser ein, das an seinem Schlüsselbund hing, und riss das Hemd entzwei. Die Stofffetzen wickelte er sich um die Hände. Mit ausgestreckten Armen sprang er aus dem Stand hoch und versuchte die Mauerkante zu fassen. Der Gang war zu schmal, als dass er auch nur einen Meter Anlauf hätte nehmen können.
Er musste mehrmals springen, bis er sich halten und hochziehen konnte. Die Scherben stachen durch den Stoff, und er spürte seinen Arm wieder, den er sich bei seinem Sturz in den Bergen verletzt hatte. Trotzdem schaffte er es, sich hochzustemmen. Er zog einen Fuß auf die Mauer, schwang das andere Bein hinüber und sprang in den Hof. Mit einem Fuß knickte er weg. Er unterdrückte einen Aufschrei, keuchte. Warmes Blut lief ihm das Bein hinunter. Er hatte sich auf der Mauer das Schienbein aufgeschnitten.
Den Rücken gebeugt und die Hände auf die Oberschenkel gestützt, wartete er, bis sein Atem sich beruhigte. Eine Ratte huschte über seine Füße, und das Blut sickerte durch sein Hosenbein. Immerhin blieben die Hühner ruhig und verrieten ihn nicht.
Die Tür zwischen Hof und Treppenhaus stand offen. Ly schlich die Treppe hinauf. Oben blieb er stehen und lauschte. Als er nichts hörte, drückte er die Klinke der Tür des zur Straße gelegenen Zimmers. Zu seiner Verwunderung war nicht abgeschlossen.
Er öffnete die Tür einen Spalt, zwängte sich hindurch und schloss die Tür sofort wieder. Mit dem Rücken an der Wand blieb er stehen. Niemand außer ihm war im Zimmer. Das Einzige, was er hörte, war sein eigener Atem.
Durch die Ritzen in den Holzläden drang etwas Licht von der Straße herein. Der Raum war groß, etwa fünf mal sieben Meter. In dem schummrigen Licht konnte er ein breites Bett ausmachen, einen Sekretär, einen Altar und eine Kommode, auf der ein Aquarium stand. Es wirkte alles sehr schlicht. In Hanoi hatte die Baronin vermutlich keinen Grund oder kein Interesse daran aufzufallen. Hier war sie nicht die Wohltäterin, die alles unter Kontrolle haben wollte, sondern die Geschäftsfrau, die unauffällig agierte.
Ly begann, sich genauer umzusehen. Der Sekretär war abgeschlossen. In der obersten Schublade der Kommode lagen ordentlich zusammengelegt mehrere Hosen, Blusen und Unterwäsche. Er tastete den Boden der Schublade ab, fand aber nichts weiter. Die beiden unteren Schubladen waren leer.
Er beugte sich zur Glasscheibe des Aquariums vor undkonnte mehrere Zebrawelse erkennen. Neben dem Becken stand eine Kiste mit Tierfutter-Tüten, einem Kescher und einer hübschen silbernen Dose. Ly nahm die Dose aus der Kiste und zuckte zusammen. Eine blechern klingende Synthesizer-Melodie zerriss die Stille. Neonlicht leuchtete das Aquarium pink aus. Ein goldener Buddha, der im Kies stand, klappte seinen Mund auf und zu. Die Zebrawelse jagten aufgeschreckt hin und her. Ly musste aus Versehen an den Schalter für das Aquarium gekommen sein. Hastig drückte er ihn wieder aus.
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