Der letzte Vampir
Stahl aufgenommen hatte; sie baumelte nur noch an einer breiten Kette, die andere war abgerissen. Ihr Rand berührte den Boden, stecken geblieben in einem dicken Schwall erstarrter Schlacke. Reyes’ Versteck war ein aufgegebenes Stahlwerk. Davon gab es in Pennsylvania eine Menge, vor allem in der Umgebung von Pittsburgh, aber Caxton konnte sich nicht vorstellen, so weit transportiert worden zu sein. Sie konnte Meilen von dem Maisfeld entfernt sein, wo man sie gefangen genommen hatte, oder auch nur ein paar hundert Meter weit weg. In dem Sarg hatte sie keine Entfernungen abschätzen können. Ihre Gedanken überschlugen sich förmlich, versuchten herauszufinden, wie weit man sie weggebracht hatte, aber es war sinnlos.
Wenigstens war sie irgendwo, an einem Ort mit Licht und Geräuschen, und ihr Bewusstsein trieb nicht länger in der Dunkelheit. Sie studierte ihre Umgebung, so gut sie konnte, während sie von dem Vampir getragen wurde. Reyes und seine Halbtoten benutzten nur eine Ecke des weitflächigen, aufgesprungenen Bodens. Die gesichtslosen Sklaven hatten ein ordentliches Lagerfeuer in Gang gesetzt und darum ein paar Möbel aufgebaut, alte Stühle und Sofas, aus deren verrottenden Polstern die Federn herausragten. Etwa fünfzehn von ihnen hatten sich um das Feuer versammelt und schauten dem Tanz der Flammen zu, über einen unausgesprochenen Witz kichernd. Als Reyes kam, verstummten sie. Er warf Caxton auf einen mit Schimmelflecken übersäten Fernsehsessel und hockte sich vor das Feuer. Er unternahm keinen Versuch, sie zu fesseln.
»Wenn du nicht …«, setzte Caxton an und verstummte augenblicklich, als sich ihr sofort sämtliche Köpfe zuwandten. Die vielen verstümmelten Gesichter machten sie nervös und ließen sie an ihre eigene Sterblichkeit denken. »Wenn du mich nicht umbringen willst, muss ich mal austreten«, sagte sie dann.
Sie rechnete damit, dass die Halbtoten sie verspotten würden, und das taten sie auch. Caxtons Wangen röteten sich, als sie ihre weinerlichen, schrillen Beleidigungen hörte, aber sie musste tatsächlich.
»Piss dir doch ins Höschen, Schlampe«, schrie einer der Halbtoten. Sein gehäuteter Unterkiefer klappte vor Vergnügen nach unten. »Yeah, komm schon, tu es, das will ich sehen. Piss dir ins Höschen!« Er stimmte die Worte als Singsang an, und einige der anderen fielen mit ein.
Reyes stand auf und ergriff mit der einen langfingerigen Hand den Kopf des Spötters und mit der anderen dessen Schulter. Er riss einmal kräftig, und der Halbtote brach in zwei Teile. Der Vampir warf beide ins Feuer. Die Flammen schossen in die Höhe, als der zerstörte Körper verbrannte, und der Gestank von ungewaschenem Schrecken hüllte sie alle ein.
Der Gesang verstummte augenblicklich. Reyes suchte in einem Müllhaufen herum und fand einen verrosteten Zinneimer. Er warf ihn Caxton zu, und sie fing ihn auf.
»Toll, danke«, sagte sie und ging vom Feuer weg. Der Vampir sah ihr nicht einmal hinterher, als sie durch die Stahlwerkshalle ging, weit weg von den Halbtoten. Das brauchte er auch nicht. Sie konnte ihn in ihrem Kopf fühlen und wusste, dass sie nie wieder von ihm loskommen würde. Er war selbst dann noch bei ihr, als sie sich über den Eimer hockte. Sie schloss die Augen und versuchte ihn auszusperren, aber das war unmöglich.
Sie ließ den Eimer dort stehen und ging zurück zum Feuer. In der ungeheizten Halle herrschte eine brutale Kälte, und Caxton kam zu dem Schluss, dass es besser war, ihr Unbehagen gegenüber ihrem Gefangenenwärter zu überwinden, als an Unterkühlung zu sterben.
Ein Halbtoter wartete auf sie, eine Tüte Fast Food in der knochigen Hand. Sie nahm sie entgegen und stellte fest, dass sie furchtbar hungrig war. Seit mehr als einem Tag hatte sie nichts mehr gegessen, und auch wenn das Adrenalin ihren Körper dazu gebracht hatte, auf Essen zu verzichten, konnte das dennoch nicht ewig so weitergehen. Sie öffnete die Tüte und fand einen kalten Hamburger und einen abgestandenen Softdrink. Der Hamburger war bereits angebissen. Sie war sich nicht sicher, ob die Halbtoten das Essen aus einem Müllcontainer gefischt hatten, oder ob einer von ihnen abgebissen hatte. Es spielte keine Rolle. Sie verschlang den Burger und spülte ihn mit der klebrigen Limo runter. Ihre Lippen waren vor Durst aufgesprungen.
Nachdem auch dieses Bedürfnis gestillt war, hockte sie sich wieder auf den Sessel und legte die Arme um den Körper. Sie wusste nicht genau, was sie nun tun
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