Der letzte Vorhang
Keiner hat sie seit Jahren gesehen oder von
ihr gehört. Es ist entsetzlich, daß dies geschehen konnte.« Plötzlich war sie
furchtbar müde, als hätte jemand Hafergrütze in ihre Adern gepumpt. Sie drückte
ihre Wange an seine Brust. »Uns alle trifft die Schuld daran.«
»Okay, du glaubst, du kennst sie, aber wollen
wir nicht lieber warten, bis Nina es nachgeprüft hat?«
»Vielleicht ist alles ein gewaltiger Irrtum. Sie
könnte die Kachel weiterverschenkt haben.« Aber noch während sie diese
Möglichkeit andeutete, war ihr klar, daß es höchst unwahrscheinlich war.
Schauspieler, besonders Tänzer, klammerten sich an Erinnerungen. Manchmal waren
Erinnerungen alles, was sie besaßen.
»Wer war sie, Les?«
Sie biß sich auf die Lippen. Den Knochen einen
Namen zu geben, würde es zur Tatsache machen. »Sie war eine der Tänzerinnen in
der Show. Auf der Tournee waren wir Zimmergenossinnen, saßen in der Garderobe nebeneinander.
Ihr Name war Terri Matthews.«
MEMORANDUM
An: Carlos Prince und Leslie Wetzon
Von: Nancy Stein, Assistentin von Mort Hornberg
Datum: 16. November 1994
Betr.: Combinations in concert
Die Miete der Tontechnik beträgt 8750 Dollar,
plus geschätzte 925 Dollar Arbeitslohn, zusammen also 9675 Dollar. Sie
berechnen uns nichts für den Transport, der auf3500 Dollar geschätzt wird.
Wenn Ihr damit einverstanden seid, zeichnet es
bitte ab und schickt es zurück.
11.
Kapitel
»Ich zeichne das nicht ab, Carlos, tu du’s bloß
auch nicht. Nichts unterschreiben, bis ich mit Mort gesprochen habe.«
»Dein Wunsch ist mir Befehl, Herzallerliebste.«
In der Morgendämmerung überzog ein eisiger
Sprühregen die Stadt mit strahlendem Glanz.
Sie hatte Silvestri die Namen der
Originalbesetzung und des Regieteams gegeben — von allen, die ihr einfielen — ,
sowie die Telefonnummer ihrer Freundin Ann Ledley von der
Schauspielergewerkschaft. Silvestri saß am Telefon und redete mit Nina Wayne,
als Wetzon ging.
Wie viele Menschen, fragte sich Wetzon, als sie
in den wartenden Wagen stieg, entschwanden mit den Jahren einfach so dem
Gesichtskreis? Menschen, die man mochte — oder auch nicht mochte — , die man
aber nie wieder sehen würde. Man war für kurze Zeit sehr vertraut miteinander,
dann trennten sich die Wege. Man dachte nur noch ab und zu an sie, wenn
überhaupt. Wann hatte sie zum letztenmal an Terri gedacht?
Der Familienkreis — denn um einen solchen
handelte es sich — eines Musicals ergab sich aus Notwendigkeit. Normalerweise
gab es eine Mutterfigur und eine Vaterfigur. Intimität entstand beinahe
spontan, besonders wenn das Musical auf Tournee ging. Später löste sich der
Kreis auf, wenn die Show abgesetzt wurde oder man zu einer anderen Show wechselte.
Und das wurde verstanden und akzeptiert.
An diesem Morgen war sie froh für die Anonymität
des Mietwagendienstes. Der Chauffeur, jung und bärtig, trug ein kleines
goldenes Kruzifix als Ohrring, das von dem einen Ohrläppchen baumelte. Er hatte
es darauf angelegt, das Rotlicht zu überfahren, während er durch den Central
Park raste. Er brummte und stöhnte über den städtischen Bus, über einen
Bauwagen der Stadtwerke — der natürlich genau in der Mitte der Columbus Avenue
geparkt war, wo sie einen größeren Krater aushoben — und über den allgemeinen
Verkehr, der sich für ihn nicht schnell genug voranbewegte.
Sie hätte ihm gern gesagt, daß einem, wenn man
so durchs Leben hetzte, Augenblicke heiterer Gelassenheit entgingen — Menschen,
die man mochte, die eben noch hier waren und im nächsten Augenblick für immer
fort. Aber sie sagte nichts. Er hätte es nicht verstanden. Sie blickte durch
das vom Regen gestreifte Fenster des Autos und versuchte sich an die Feier nach
der Schlußvorstellung von Combinations vor siebzehn Jahren zu erinnern,
als sie sich zum letztenmal als Familie in der Tavern on the Green eingefunden
hatten.
Der Chauffeur parkte in der zweiten Reihe vor
Smith’ Gebäude in der East 77. Street, stieg aus und sprach mit dem Portier.
Natürlich hatte Smith Verspätung. Es war schon halb acht, was bedeutete, daß
die Chancen schlecht standen, rechtzeitig zum Frühstück zu kommen. Smith
bevorzugte den eindrucksvollen, wenn auch verspäteten Auftritt, weil sie die
Ansicht vertrat, die wichtigsten Personen tauchten nirgendwo pünktlich auf.
»Ich könnte anrufen und ihnen sagen, sie sollen
ohne uns anfangen«, sagte Wetzon halblaut, als Smith zehn Minuten später
angeschlendert
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