Der letzte Vorhang
Sarah Matthews, Terris Großmutter, starb
1985, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, daß sie überhaupt eine
Enkeltochter hatte. Eine der Schwestern hatte Sarah als völlig hilflos in
Erinnerung. Etwa ein Jahr lang vor ihrem Tod konnte sie nicht mehr sprechen.
Niemand besuchte sie jemals, obwohl nach alten Unterlagen die nächste Verwandte
Theresa Matthews war, die in New York, 481 West 11. Street, Apartment 2R wohnte.
Es gab zwei Briefe, die der Heimleiter 1979 und 80 an Terri im Hinblick auf den
Zustand ihrer Großmutter geschrieben hatte. Beide waren mit dem Stempel
>Empfänger unbekannt< zurückgekommen.«
»Wer hat dann für die Pflege der Großmutter
gezahlt?«
»Die Sozialversicherung, und dann war noch Geld
von Terris Eltern da, die bei einem Bootsunfall umgekommen waren, als sie drei
war. Dazu kommt ein Treuhandkonto auf Terris Namen mit etwas Geld. Es liegt bei
einer dortigen Bank, und in den vergangenen zehn Jahren haben sich die Zinsen
darauf angesammelt.«
»Ich begreife das nicht. Hat sich kein Anwalt
darum gekümmert?«
»Der Anwalt, der als Bevollmächtigter für Terri
und ihre Großmutter fungierte, starb 1980. Seine Firma fusionierte mit einer
anderen. Die Akten lagern bei der anderen Firma. Wir werden sie gerichtlich
anfordern müssen. Über die ganzen Jahre haben sie ihr Honorar kassiert und nie
gemeldet, daß Terri vermißt wurde.«
»Die Verfolgung zur Herausgabe der Akten ist
unterwegs«, sagte Silvestri.
»Warum hat dieser Anwalt nicht angezeigt, daß
Terri vermißt wird?«
»Meine persönliche Meinung ist, daß Terri nach
seinem Tod aus dem Raster gefallen ist, und falls jemand in der Firma später
daran gedacht haben sollte, etwas zu unternehmen, war es nicht der Mühe wert.«
»Unmoralisches und betrügerisches Verhalten,
würde ich sagen.« Alle, dachte Wetzon, hatten Terri im Stich gelassen.
»Was wollen Sie noch wissen?« fragte Nina.
»Sie haben gesagt, daß sie erschossen wurde«,
hakte Wetzon nach.
»Wir fanden ein kleinkalibriges deformiertes
Geschoß im Schädel und ein kreisrundes Loch im rechten Hinterhauptsbein.«
»Bedeutet das, daß sie in dem Koffer lag, als
sie erschossen wurde?«
»Nein. Wir wissen ganz sicher, daß sie irgendwo
anders getötet wurde, weil es im Koffer keinen sichtbaren Hinweis auf Blut gab.
Wir haben alles zusammengepackt und ans FBI geschickt. Vielleicht finden die
Serologen dort etwas.«
»Was ist mit der Kugel?« fragte Wetzon. »Läßt
sich damit etwas anfangen?«
Silvestri schüttelte den Kopf. »Wenn das Geschoß
wie in diesem Fall einfach so daliegt, haben wir keine Möglichkeit, zu
erkennen, ob das die Kugel ist, die zum Tod führte, nicht einmal, ob sie aus
einer Pistole oder einem Gewehr abgefeuert wurde.«
»Kann man nicht sehen, ob die Kugel in das Loch im
Schädel paßt?«
»Nein«, sagte Nina. »Das geht nicht, weil
Knochen sich mit der Zeit verändern, besonders nach siebzehn Jahren und bei
unbekannter Feuchtigkeitseinwirkung.«
Silvestri fügte hinzu: »Man kann das Geschoß nur
mit der Leiche in Verbindung bringen, wenn es im Knochen steckt.«
»Also haben wir überhaupt nichts.« Wetzon klang
tief enttäuscht.
»Nicht unbedingt.« Silvestri setzte den
Pappbehälter ab, trank einen kräftigen Schluck Bier und nahm dann einige
gefaltete Blätter aus seiner Innentasche. Wetzon schob die fast leere Schachtel
mit gebratenem Reis beiseite.
Silvestri strich die Blätter glatt und las vor:
»Mieterträge für Nummer 481 West 11. Street. Das Sandsteinhaus ist fünfstöckig
und hat zwei Maisonettewohnungen im dritten und vierten Stock, dann zwei
Wohnungen pro Etage im ersten und zweiten und eine Gartenwohnung im Parterre.
Macht sieben Mieter, richtig?«
»Richtig«, sagte Wetzon. »Plus eventuelle
Mitbewohner.«
Nina beobachtete Silvestri mit
zusammengekniffenen Augen. »Und?«
»Keine Terri oder Theresa Matthews.«
»Vielleicht hat sie gar nicht in dem Haus
gewohnt«, meinte Wetzon.
»Und es als Postadresse benutzt?« Nina runzelte
die Stirn.
»Das glaube ich nicht«, sagte Wetzon. »Sie
wohnte im Village, irgendwo in der Nähe von Carlos, der damals in der 10.
Straße logierte. Silvestri, hat die Gewerkschaft nicht eine letzte bekannte
Adresse von ihr?«
»Doch: 481 West 11. Street, Apartment
2R.«
»Tja...« Wetzon nahm den Pappbehälter und
begann, mit den Stäbchen in den Resten darin herumzustochern. »Lies doch
einfach die Namen vor. Sie könnte aus irgendeinem komischen Grund einen anderen
Namen benutzt
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