Der letzte Walzer in Paris - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
Vergnügen aus vergangener Zeit: den Musettewalzer. Später, als LaBréa endlich schläfrig wurde, erschien ihm in der kurzen, rasch entfliehenden Spanne zwischen Wachen und Schlaf das filigrane Gesicht der ermordeten Griseldis Geminard. Das Bild verblasste, und LaBréas Gedanken und Gefühle versanken in ein traumloses Nichts.
6. Oktober 2001
Er zog die Schuhe aus, die ihm sein Cousin geschenkt hatte, und streifte die Socken ab. Der Schmutz unter den Fußnägeln hatte sich mit angetrocknetem Blut vermischt. Einige Blasen an den Zehen waren aufgeplatzt. Barfuß zu gehen war eine Wohltat.
Schon lange hatte sich der Tag davongestohlen. Auf dem Wecker neben Dollys Bett las er die Uhrzeit: kurz nach elf. Der Wecker stammte noch aus der Zeit, als er zur Schule ging, und war im Lauf der Jahre überflüssig geworden. Dolly und er lebten ohne festen Rhythmus, und Dolly stand auf, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen hatte. Das war selten vor zehn Uhr morgens.
Von draußen vernahm er die immer gleichen Geräusche. Heute störten sie ihn, und er wusste nicht, warum. Seine Streifzüge hatten sich länger hingezogen als gewöhnlich. In der Zone war wenig Betrieb gewesen, und dementsprechend fand er in den Abfallkörben nur kümmerliche Reste. Am Nachmittag war er von der Metrostation Nation nach Barbès gefahren. Er war ein geübter Schwarzfahrer. Die Kontrollsperren zu überwinden erwies sich in den meisten
Metrostationen als Kinderspiel. In der Rue Custine wohnte Mahmoud, ein ehemaliger Schulfreund von ihm. Sie waren zusammen eingeschult worden und hatten all die Jahre Kontakt gehalten. Mahmouds Familie stammte aus Afrika und lebte von Diebstahl und Hehlerei. Zu den Stoßzeiten trieben sich die Jugendlichen und Kinder des fünfzehnköpfigen Clans als Taschendiebe auf den Bahnhöfen der Stadt herum oder drängten sich in die überfüllten Metrozüge. Vor einigen Monaten hatte die Polizei Mahmouds jüngeren Bruder geschnappt. Da er noch nicht strafmündig war, musste der Untersuchungsrichter ihn laufen lassen.
Schon seit längerem plante er mit Mahmoud ein größeres Ding. In einem Hinterhof am Boulevard Barbes lagerten in einem schlecht gesicherten Raum Billiglaptops, Handys, Digitalkameras und Ghettoblaster. Schwarzmarktware aus Asien, Labelimitationen. Mahmoud hatte einige Käufer an der Hand, und am heutigen Abend sollte es losgehen. Er wusste, dass Dolly nicht vor Mitternacht nach Hause kam. Da würde er längst zurück sein. Das Türschloss des Lagerraums zu knacken war ein Kinderspiel. In den beiden Rucksäcken, die Mahmoud organisiert hatte, verstauten sie ein Dutzend Handys, drei Kameras, zwei Ghettoblaster und drei Laptops. Mahmoud wollte die Ware gleich am nächsten Tag verhökern. Nachdem sie die Sachen sicher in Mahmouds Wohnung geschafft
hatten, bekam er seinen Anteil von fünfzig Euro. Er fand das eigentlich zu wenig, doch Mahmoud hatte ihm klargemacht, dass er das Risiko trüge und die Ware möglicherweise nicht loswerden würde. Dolly würde er von diesem Geld nichts erzählen, denn sie war strikt gegen derartige Aktionen.
»Wir sind keine Diebe und Kriminellen«, sagte Dolly oft. »Sondern anständige Leute, trotz allem. Wir respektieren das Eigentum anderer.« Er wunderte sich über ihren seltsamen Begriff von Ehre. Für sie selbst galt er in einem entscheidenden Punkt offenbar nicht. Doch das stand auf einem anderen Blatt.
Einen Moment lang hatte er überlegt, ob er für Dolly eine Flasche guten Schnaps kaufen sollte. Fünf Euro, mehr müsste er nicht dafür hinblättern. Doch aus verschiedenen Gründen hatte er diesen Gedanken verworfen. Einer davon war der, dass etwas geschehen musste.
Seit den Flugzeuganschlägen auf die Türme in Amerika waren einige Wochen vergangen. Es war Herbst geworden. Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt, trotz der fünfzig Euro, die er sich heute verdient hatte.
Diesmal hatte er kein Brot aus der Bäckerei mitgebracht. Dolly wollte unterwegs ein Stück Pizza essen, und später in der Nacht ließ ohnehin nur noch billiger Fusel sie alles vergessen.
Er blickte durchs Fenster auf die Umgebung. Es regnete, doch das Wasser konnte die verschmutzten Schei ben
nicht rein waschen. In der Ferne blinkten Lichter, rote und grüne.
Eine Nacht wie jede andere.
Bald würde Dolly nach Hause kommen. Wie immer nicht allein. Hoffentlich war er bis dahin eingeschlafen!
Er hasste den Augenblick, wenn er das Geräusch des Schlüssels in der Haustür vernahm. So wie er alles hasste.
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