Der letzte Walzer in Paris - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
Uhr über dem Eingang einer Apotheke in der Rue Broca zeigte erst sieben nach neun an.
Vieles war geschehen in den letzten Tagen des alten Jahres, dessen Ausklang er gleichmütig hingenommen hatte, wie so vieles in seinem Leben. Am Silvestermorgen war er zum letzten Mal durch die Zone geschlendert. Aus den Bistros und Boutiquen erklang Weihnachtsmusik. Falsche Töne in einer falschen Zeit in einem Leben voller falscher versprechungen... Auf einem Flugblatt, das er unterwegs fand, warb ein griechisches Lokal mit einem üppigen Silvestermenü und suchte zudem eine Küchenhilfe für den Abend. Kurz entschlossen hatte Mick sich auf den Weg gemacht und sich im Lokal vorgestellt. Es lag im 6. Arrondissement, gleich hinter der Place St. Michel in der Rue de la Harpe, im griechischen Viertel der Stadt. Der Wirt, ein dicker, rotnasiger Mann mit buschigen Augenbrauen und einem starken Akzent, hatte ihm vier Euro die Stunde angeboten und ihn gleich dabehalten. Mit einer schmuddelig-weißen Schürze bekleidet hatte Mick in einer Ecke der engen Küche bis zum frühen
Abend Gemüse und Salat geputzt. Schmierige Fettund Dunstspuren an Decke und Wänden und ein Geruch nach ranzigem Öl und Knoblauch gaben der Küche ihr typisches Flair. Der Koch, ein Schwarzer mit blitzenden Goldzähnen im Oberkiefer, Chef von drei weiteren Köchen und zwei Gehilfen, hatte ihn herablassend behandelt und ihm nach dem Gemüseputzen nur noch Drecksarbeit zugewiesen. Er musste große Fische schuppen und ausnehmen. Der Gestank war so überwältigend, dass ihm speiübel wurde. Der eigentliche Stress begann zwei Stunden vor Mitternacht. Das Lokal war brechend voll. Die Küchenbrigade kam kaum nach mit den Bestellungen des Silvestermenüs, daszum größten Teil aus Meeresfrüchten, deftigen Fleischspießen und ganzen gebratenen Fischen bestand, garniert mit Salat, Paprika, Auberginen und Bergen von Pommes frites.
Als um zwei Uhr die Küche schloss, fühlte Mick sich so ausgelaugt und fertig wie nie zuvor in seinem Leben. Auch das Rinderhacksteak mit Pommes frites, das er, ebenso wie das Küchenpersonal, gegen achtzehn Uhr gegessen hatte, tröstete ihn nicht darüber hinweg, dass der Wirt ihn schamlos ausgebeutet hatte. Mick steckte den mageren Lohn ein und ging in die Nacht hinaus. Mit ehrlicher Arbeit, also Hilfs- und Drecksarbeit, würde er seinen Lebensunterhalt in Zukunft nicht verdienen, so viel stand fest. Doch er wollte sein Erspartes zum Ende des Jahres noch ein wenig
aufstocken, und der Job beim Griechen war ihm da gerade recht gekommen.
Die Straßen waren voller Menschen. Viele hielten Champagnerflaschen in den Händen und prosteten einander zu. »Frohes neues Jahr!«, schallte es übermütig von überallher.
Die Hände tief in die Taschen vergraben, ging er in die Rue de Marseille. Dort, direkt am Ufer des Canal St. Martin, befand sich sein neues Zuhause, eine verlassene Wellblechhütte. Eine alte Schaumstoffmatratze, mehrere Decken aus Armeebeständen, die er aus einem Obdachlosenheim hatte mitgehen lassen, und ein mit Holz zu beheizendes Kanonenöfchen schufen so etwas wie Heimeligkeit. Er war nie anspruchsvoll gewesen. Irgendwann würden die Zeiten sich ändern. Dann würde er sich für alles entschädigen. Denn die Zwischenzeit bis zum Tod, der auch ihn einmal ereilen würde, wollte er nutzen. Mit allen Mitteln. Er musste nur auf den geeigneten Moment warten.
Sein Erspartes befand sich in einem sicheren Versteck außerhalb der Wellblechhütte. Niemand würde auf die Idee kommen, in einer alten Regentonne nach Geld zu suchen. In der Tonne stand das Wasser fast einen halben Meter hoch. Eine dunkle, faulig riechende Brühe. Die Blechbüchse hatte er wasserdicht verpackt. Jetzt, in den ersten Stunden des neuen Jahrs, holte er sie aus dem nassen Versteck und legte den Lohn des Griechen dazu.
Der penetrante Küchengeruch aus dem Lokal, der in seinen Kleidern steckte, hielt sich noch mehrere Tage. Der Geruch nach Fisch, Armut und Scheitern. Doch er wollte nicht scheitern. Er würde kein Loser sein. Wenn Mahmoud doch bloß schon draußen wäre!
Vor dem Eingangstor zum Gefängnis La Sante ging er mit gleichmäßigen Schritten auf und ab. Die Profilsohlen seiner Stiefel hinterließen ein Muster im Schnee. In Abständen wurde das Gefängnistor geöffnet, und ein Gefängniswagen fuhr hinein oder heraus. Hinter den vergitterten Fenstern, die er gerade noch so über den Mauern erkennen konnte, brannte vereinzelt Licht. Der Tag war dunkel, und jeden
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