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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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ich uns niemals da rausholen.
    Die Vampire hatten da andere Ideen.
    Kurz nach Mitternacht hörte ich Russell vor der Bibliothekstür sagen: »Andy? Hörst du mich?« Pause. »Andy, bitte melden.« Pause. Dann laut: »Andrew, setz deine verdammten Kopfhörer wieder auf.«
    Nichts.
    »Was ist los?«, fragte ich.
    Russell steckte seinen Kopf durch die Tür. »Rühren Sie sich nicht vom Fleck.« Dann sprach er in sein Mikro: »Chris, ich kriege Andy nicht dran. Geh mal rauf und schau nach, okay?«
    Andy hatte Dienst auf dem Dach. Chris auf der Etage darunter. Russell war auf meiner Etage. Wazz, der vierte Mann (ich hatte nicht danach gefragt, wovon sich der Name ableitete), patrouillierte im Erdgeschoss. »Wazz? Mitgekriegt? Ja. Aber zackig.«
    Ich war aufgestanden und wollte Russell gerade darum bitten, mir für alle Fälle eine Waffe zu geben, als es geschah.
    Sehr schnell.
    Ein buchstäblich atemberaubender Gestank nach Blutsauger. Ausgetrocknete Speicheldrüsen und Übelkeit. Der ganze Raum schwankte, und ich hatte einen Fuß vom Boden. Ich fand mich auf der Couch wieder. Mir war die Sicht vernebelt. Oben schrie jemand.
    Als ich wieder klar sehen konnte, erkannte ich durch die offene Bibliothekstür Russell im Profil. Er sah etwas außerhalb des Bildes, und seine Miene war die eines Kindes in höchster Not. Wie zum bewundernswerten Beweis der Ausbildung zum Jäger taten seine Hände, was sie trainiert hatten, und suchten den Gürtel nach der optimalen Waffe ab. Ich sah, wie sich seine Finger um einen UV -Stick legten und ihn herauszuziehen begannen – dann stoppte ihn das Geräusch von reißendem Fleisch und berstenden Knochen, den Bruchteil einer Sekunde später gefolgt von einem Schauer aus Blut, der sich ihm auf Gesicht und Brust legte. Er versuchte blind, den UV -Stick zu zücken, dann zuckte er, ließ ihn ungezündet fallen, beide Hände wanderten in merkwürdig langsamer Anmut an seine Kehle, in die sich unübersehbar einer der Holzpflöcke der Jagdgesellschaft gebohrt hatte.
    Geworfen oder abgefeuert von jemandem, der den Treppenabsatz entlang auf ihn zukam. Russell ging mit einer geradezu absichtlich wirkenden Langsamkeit in die Knie, riss Augen und Mund auf, versuchte zu schlucken, doch das ging nicht,
kaah … kaah … kaah.
    Der schwarze Vampir vom Flughafen Heathrow tauchte am Treppenabsatz auf. Sein verführerisch ruhiges, schmales Gesicht deutete unauslotbare Geduld und Fertigkeit an. In der Linken hielt er einen Jagdpflockwerfer, frisch abgefeuert. In der Rechten schleifte er den toten Chris, den Mann aus dem zweiten Stock, an der Wirbelsäule hinter sich her, die ihm zwischen Bauch und Rippen aus dem Leib gerissen worden war. In der Gestankwolke des Vampirs nahm ich den übermächtigen Geruch von Exkrementen aus den aufgerissenen menschlichen Eingeweiden wahr.
    Zwei schnelle Überlegungen. Erstens, blieb nur noch Wazz unten. Zweitens, zwischen mir und der Gefangenschaft lagen nur noch ein Dutzend Schritte.
    Von der Bibliothek führte eine zweite Tür in ein Schlafzimmer, von dort ging es auf den Treppenabsatz hinaus. Die Frage (die ich mir in der aufgeblähten Traumlandschaft von vielleicht zwei Sekunden stellte, in der der Vampir Chris’ Leiche fallen ließ, zu dem knienden Russell hinüberschlenderte und den Kopf des jungen Mannes sanft in die Hände nahm) war nur, welche Tür ich nehmen sollte.
    Eine Person tritt auf die Straße, dreht sich um, sieht einen Laster auf sich zukommen, scheint zu Stein zu werden. Dieses Erstarren ist das ehrenwerte Einsetzen des erstaunlich schnellen Hirns in Fragen der Vermeidungsmathematik, der Geometrie,
der Gefahr aus dem Weg zu gehen
. Doch selbst das erstaunlich schnelle Gehirn ist zu langsam. Die ersten Kurvenberechnungen sind gerade – BÄMM ! Gute Nacht.
    Hier war es dasselbe. Ich war noch mit den allersten Winkelberechnungen zugange, als der Vampir Russell mit einer schnellen Bewegung das Genick brach, sich umdrehte und auf mich stürzte.
    Plötzlich flog ich durch die Luft. Das ist schon komisch. Die Zeit dehnt sich und nimmt selbst kleinste Details auf: die stinkend kokelnde Camel im Onyxaschenbecher; die leere Flasche Macallan auf dem Boden; eine signierte Erstausgabe von
American Psycho
, die einer der Agenten von unten aus der Sammlung zeitgenössischer Literatur heraufgebracht hatte; der Blasebalg, den ich Harley vor zwanzig Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
    Noch näher liegende Details waren ebenfalls bedauerlich gut zu erkennen: die dunklen

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