Der letzte Werwolf
mir, wenn ich starb? Hatte ich noch eine Seele? Wo und wann fing das mit den Werwölfen an?
Natürlich hatte ich gelesen. Märchen, Kompendien der Mythologie und des Aberglaubens, wissenschaftliche Studien. Lykanthropie hat, wie selbst ein erster Augenschein beweist, in vielen Kulturen einen Platz. Ich war nach Nordamerika gereist und hatte alles über
Wendigo
und die Formwandler herausgefunden, was es zu wissen gab, nach Deutschland, wo die Landbevölkerung noch immer Silber bereithielt und Eisenhut zog (der, nebenbei gesagt, zwar für Mensch und nahezu jedes Tier giftig ist, aber bei uns keinerlei Wirkung hat), nach Serbien, wo ich vom
vulkodlak
hörte, und nach Haiti, um alles über die
je-rouges
herauszufinden. Nichts von alledem überzeugte mich wirklich. Ich war ein Werwolf, und doch klangen all die Werwolfgeschichten für mich wie Märchen. Ich fragte mich, ob meine Skepsis wohl angeboren oder der Werwolf von Natur aus mit einem Riecher für seine eigene Herkunft ausgestattet war, zumindest für seine eigenen falschen Biographen. Die Geschichten hinterließen bei mir denselben deprimierenden Zweifel, den Kinder beim Weihnachtsmann oder dem Klapperstorch empfinden, diese einzigartig verunsichernden Anzeichen dafür, dass die Welt irgendwie doch anders ist. Das war in den Tagen, als ich noch keinen anderen Werwolf kennengelernt hatte. Nicht, dass das halbe Dutzend, das mir seitdem begegnet ist, von irgendeinem Nutzen gewesen wäre. Einer war vierhundertdrei Jahre alt und sprach kein Wort. Ein anderer war Gründer einer (natürlich gescheiterten) Werwolfgemeinschaft in Norwegen, eine Sekte, die auf der Verehrung Fenrirs fußte, dem unehelichen wölfischen Nachkömmling von Loki und Angrboda, und schon allein deshalb kein ernstzunehmender Gesprächspartner. Für die anderen vier – einer in Istanbul, einer in Los Angeles, einer in den Pyrenäen und einer, unglaublicherweise, auf einer Nilkreuzfahrt 1909 –, die alle geradezu verzweifelt besessen waren von der Suche nach einer Werwölfin, war ich nur unerwünschte Konkurrenz. Ich war froh, mit dem Leben davonzukommen. Doch John Fletchers Bericht von Quinns Begegnung klang … wenn schon nicht wahr, so doch zumindest nicht völlig gelogen. Die absolute Deplatziertheit – Werwölfe in Mesopotamien? – verlieh dem Ganzen einen Hauch von verrückter Authentizität.
Ein Treffen mit Fletcher genügte mir, um mich davon zu überzeugen, dass
seine
Geschichte zumindest stimmte (er hatte nur weitergegeben, was Quinn ihm erzählt hatte), und zwar aus dem Grunde, weil der Mann schlicht nicht in der Lage war, sich so etwas auszudenken. Wenn man also von der Wahrhaftigkeit von Fletchers Aussage ausging, was hatte Quinn dann in sein Tagebuch geschrieben? Wie lautete die fünftausend Jahre alte Geschichte von den Männern, die zu Wölfen wurden?
Was ich erwartet hatte (und mir ging auf, dass ich schon die ganze Zeit darauf gewartet hatte, seit die Worte »Ich habe Quinns Buch« den Mund meiner Gastgeberin verlassen hatten), war eine tiefe, körperliche Gewissheit, dass mich das nicht mehr kümmerte. Wie kommst du auf die Idee, dass mir das heutzutage nicht scheißegal ist? Es ist mir tatsächlich scheißegal, wenn ich so darüber nachdenke. Mutige Worte. Tatsächlich war mir übel. Mir wurde übel von der Kombination zu wissen, dass dies alles zu spät war, und zu wissen, dass es selbst jetzt nicht zu spät war. »Quinns Buch« war ein Kindheitsfetisch, dem ich entwachsen war, und zugleich eine auf wundersame Weise wiederauferstandene alte Liebe. Ich wusste, welche Befreiung es wäre, aufzustehen und einfach mit einem traurigen Lächeln davonzugehen, wie eine letzte Entsagung, die Frieden bringt.
Die Schönheit chronischer Ambivalenz liegt darin, dass selbst winzigste Detailverschiebungen den entscheidenden Ausschlag geben können. Jacqueline stellte die Dusche ab, atmete schwer aus, und das Geräusch riss mich aus meiner Benommenheit. Plötzlich war die Ungewissheit meines Status hier unerträglich. War ich nun ein Gefangener oder nicht?
Ich habe Quinns Buch
. Sie log nicht (und selbst jetzt war der Gedanke, es nach all diesen Jahren in Reichweite zu wissen, wie ein plötzlicher Abfall des Blutdrucks), doch ich konnte den Gedanken nicht ertragen, einfach darauf zu warten, wie sich alles entwickeln würde. Mit dem abrupten Ende des Wasserrauschens und dem einen weiblichen Seufzer holten mich all die Wochen des Nichtstuns ein und brachten mich in einem kurzen Anfall von
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