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Der letzte Werwolf

Der letzte Werwolf

Titel: Der letzte Werwolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Glen Duncan
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an, zum einen, weil die schiere Menge an Fundstücken sein aufrichtiges Interesse weckte, zum anderen aus Respekt für den guten Mann, den er verloren hatte.
    Alexander Quinn hatte es nämlich nicht bis zurück ins Camp geschafft. Sein kleiner Vorabtrupp und er wurden auf dem Rückmarsch von Banditen überfallen. Quinn, der Führer und einer der Diener kamen ums Leben. Der zweite Diener, John Fletcher, blieb scheinbar tot liegen, doch er überlebte eine Messerwunde in der Schulter, wanderte einen Tag lang orientierungslos in der Wüste umher und wurde dann von einer Karawane aufgenommen. Aufgrund des einzigen Wortes, das die Händler verstanden, »Qusair«, brachten sie Fletcher zu Greaves zurück, wo er zwei Tage später, nachdem er das Fieber überstanden und sich wundersamerweise keine Infektion zugezogen hatte, seiner Lordschaft die ganze Geschichte berichtete.
    In der Nacht vor dem Überfall, so berichtete Fletcher, wurde der Vorabtrupp, der in der Nähe des Tempels campierte, durch die Ankunft eines ungeheuer alten Mannes in Lumpen überrascht, der auf Händen und Knien aus der Dunkelheit herbeigekrochen kam. Er war abgemagert und halbblind, und er sprach einen Dialekt, den selbst der Führer nur halb verstand, aber sie brauchten keinen Dolmetscher, um zu erkennen, dass der Alte dem Tod nahe war. Als Quinn um Hilfe schicken wollte, hielt ihn der alte Mann auf. Sinnlos. Zeit zu sterben. Aber zuhören. Geschichte bewahren. Keine Kinder, also sage ich. Du schreibst. Geschichte bewahren. Der Alte hatte dabei gelacht, über sich selbst, wie es schien. Fletcher hatte ihn für verrückt gehalten. Quinn, der nicht gewillt war, den Mann einfach sterben zu lassen, hatte die Diener zurück ins Dorf geschickt, um Hilfe zu holen, doch als sie zwei Stunden später zurückkehrten, war der Alte verschieden. In diesen zwei Stunden hatte er, so behauptete Quinn, eine unglaubliche Geschichte erzählt, eine Geschichte, die, wenn sie denn stimmte, seit den Tagen Etanas weitergereicht worden war und den ältesten Bericht über den Ursprung eines nahezu weltweiten Mythos darstellte – von Menschen, die zu Wölfen wurden.
    Quinn hatte mit Hilfe des übersetzenden Führers alles in sein Tagebuch geschrieben.
    Das war noch nicht alles. Abgesehen von den Lumpen auf seinem Rücken war die einzige Habe des Alten ein in die Reste eines Hanfsacks gewickelter Steinbrocken gewesen, etwa fünfundzwanzig auf zwanzig Zentimeter, offenbar Bruchstück einer größeren Steinplatte, auf der sich Hieroglyphen befanden, die Quinn nicht hatte entziffern können, die aber, so der Alte, die Wahrheit seiner Geschichte bewiesen.
    Nicht sonderlich viel, oder? Kaum die Grundlage, um fast vierzig Jahre lang eine Obsession darauf aufzubauen. Und doch raubte der Gedanke an Quinns Tagebuch – und an die Geschichte von den Männern, die zu Wölfen wurden – mir vierzig Jahre lang viel Kraft.
    Es gibt eine Grenze. Ich unterhielt mich mit John Fletcher, mit Lord Greaves, mit allen überlebenden Mitgliedern der Expedition von 1863 . Ich reiste mit einem Dolmetscher nach al-Qusair und weiter zum Tempel von Gharab. Ich stöberte Banden-Anführer auf und bot Belohnungen für Informationen. Ich beschäftigte ein halbes Dutzend Antiquitätenhändler und Antiquare damit, den Markt im Auge zu behalten, trotz der an tödlicher Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit, dass Quinns Tagebuch einfach für wertlos erachtet und weggeworfen worden war, nur um schon seit langem vom Wüstensand verschluckt worden zu sein. Das Ganze kostete Zeit, Geld, geistige Gesundheit. Ich wusste, das war nur eine lächerliche Fixierung (man kennt doch im Großen und Ganzen seine Wahnvorstellungen. Doch im Großen und Ganzen ist dieses Wissen nutzlos. Die Vorstellung, die Bestie dadurch zu zähmen, dass man ihr einen Namen gibt, ist doch nur der blödsinnige Optimismus der Psychotherapie). Als die
Times
im Mai 1863 von der Geschichte berichtete, war ich bereits seit einundzwanzig Jahren ein Werwolf. Die großen Fragen verschwanden nicht einfach so, wie sich zeigte. Einmal im Monat verwandelte ich mich in ein Ungeheuer, halb Mann, halb Wolf. Na schön. Ich tötete und fraß Menschen, angefangen mit meiner eigenen Frau. Tja. Aber wie passte das alles zusammen? War meine Art Gottes Schöpfung oder Teufels Werk? Darwins
Entstehung der Arten
, vier Jahre zuvor veröffentlicht, hatte faktisch klargestellt, dass keins von beidem stimmte, doch alte Gewohnheiten sind nur schwer abzulegen. Was wurde aus

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