Der letzte Werwolf
beschäftigt. Mir taten die Schultern weh. Das verworrene Leben des Junkies fand unglaublicherweise noch Platz, den letzten Sitz in einer ausverkauften Arena, in der dichten, ohrenbetäubenden Menge an Untoten. Irgendwo unter ihnen der pflaumengroße unausgereifte Fötus meiner Tochter, meines Sohnes.
Es gab zwei mögliche Erklärungen dafür, warum ich hier war. Entweder war Jacqueline Delon nur gelangweilt und verrückt genug, um das Halten eines Werwolfs als erotisches Haustier für einen verjüngenden neuen Reiz zu halten. Oder aber sie hatte ein mir bislang unbekanntes Motiv, das neben dem Aufwand meiner Entführung und der Mitwisserschaft bei einem Mord zeitweilige Verstellung verlangte. Sie war eine Frau von faszinierend scharfer Doppeldeutigkeit, auch ohne den Köder von Quinns Tagebuch.
Ach herrje, Quinns Buch.
Im Frühling 1863 brach der siebenunddreißigjährige Alexander Quinn ein drittes und letztes Mal nach Mesopotamien auf. Seine beiden erstklassigen Oxford-Abschlüsse in Altphilologie und Alter Geschichte hätten ihm eine lebenslange Position an der Universität einbringen können, doch als er Kings College 1848 verließ, gierte es ihn nach der Welt jenseits der Collegemauern. Kurze, erfolglose Versuche im Britischen Museum, dem Foreign Office (Burma) und der East India Company (Bombay), die sein Dad über alte Eton-Seilschaften eingefädelt hatte, bestätigten nur die Aussichtslosigkeit, Alexander könne es hinter einem Schreibtisch aushalten; 1854 unternahm er unter den bacchanalischen Blicken von Lord William Greaves, einem bekannten Okkultisten und Lebemann, seine erste archäologische Expedition in den Nahen Osten; Quinn (der bei Frauen auch nicht träge war) hatte ihn als Freiergenossen in Kate Hamiltons Etablissement kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Greaves, Sammler von religiösen Antiquitäten und Schüler der Schwarzen Künste, war ganz fasziniert gewesen von den Aufzeichnungen der Botta’schen Entdeckungen in Ninive und Chorsabad, und er war davon überzeugt, dass man uralte Gegenstände von talismanischer Macht einfach so mitnehmen konnte, wenn man nur das Geld, die Muße und den Willen hatte, hinzugehen und sie auszugraben. Quinn, der ganz versessen darauf war, sich die Hände schmutzig zu machen und sein Arabisch aufzupolieren, tat so, als würde er sich für Satanismus interessieren, und bot seine Dienste als Dolmetscher und rechte Hand an. Und genau das wurde er in den folgenden neun Jahren. Neben der Aufsicht bei den Grabungen und der Katalogisierung der Funde schmierte Quinn die nötigen Beamten, Landbesitzer, Stammesältesten und Zollbeamte und fand immer noch genügend Zeit, seiner Lordschaft Opium und Frauen zuzuführen.
Woher ich das alles weiß?
Weil ich eine Menge Zeit damit verbracht habe, das herauszufinden.
Und warum habe ich so viel Zeit damit verbracht, es herauszufinden?
Weil Quinn vor seinem Tod im Jahr 1863 behauptete, den Ursprung der Werwölfe entdeckt zu haben.
Eine lächerliche Geschichte, selbstverständlich, aber die Historie ist voller lächerlicher Geschichten.
So einen Blödsinn kann man doch nicht erfinden
, ertappt man sich zu sagen, wann immer die scheinbar so prosaische Welt den Schleier über angebliche Synchronizitäten lüftet. Die scheinbar so prosaische Welt zuckt darüber nur mit den Schultern: »Hey, frag nicht mich. Ich arbeite nur hier.«
Und wie so oft bei großen Entdeckungen, suchte der Mann eigentlich etwas anderes. Quinn war in die Stadt al-Qusair gereist, von wo aus den Archäologen Gerüchte von einem unterirdischen Tempel, fünfzehn Meilen entfernt, überbracht worden waren; ein geistig unterbelichteter Ziegenhirte war buchstäblich hineingefallen. Greaves, der skeptisch war (die Einheimischen hatten schnell gelernt, dass man damit Geld verdienen konnte, den exzentrischen Europäern ›Informationen‹ zu verscherbeln), hatte Quinn den Ort als eigenes Projekt überlassen, und der Protegé war vom Camp in al-Qusair mit Kamelen, einem Führer und zwei Dienern aufgebrochen, von denen einer mit dem Führer zurück zu seiner Lordschaft entsandt werden sollte, um weitere Helfer und Ausrüstung nachkommen zu lassen, falls sich die Gerüchte bewahrheiten sollten.
Zu jedermanns Überraschung taten sie das. Die Ausgrabungen bei Gharab förderten nicht nur einen Tempel, sondern ein ganzes versunkenes Dorf zutage, das sich auf das dritte Jahrtausend v.Chr. datieren ließ. Lord Greaves besserte sich und führte die Ausgrabungen
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