Der letzte Werwolf
sich über einen sommerblauen Himmel. In den Vorgärten blühten die Rosen. Valentina sog den Duft ein, den ihnen eine warme Brise zufächelte. Doch davon bekam Dorian wenig mit, zu sehr beanspruchte ihn das Bild einer modernen Stadt.
„Jeglicher Weg steinern, ohne Unrat und ohne Pferdekot, welch ein Progress! Fürwahr!“ Auf dem ersten Stück ihres Wegs, die Parkmauer entlang, war heute, am Sonntag, wenig Verkehr. Als das erste Auto vorbeifuhr, blieb Dorian erschrocken stehen. „Welch wunderliche Karosse! Welch geheime Kraft treibt sie wohl an?“
Phil übernahm es, ihm zu erklären, wie ein Verbrennungsmotor funktionierte. Aufmerksam hörte Dorian zu.
„Sind Sie, lieber Freund, gar selbst im Besitze eines solchen Automaten?“, erkundigte er sich schließlich.
Phil lachte. „Kinder dürfen leider nicht Auto fahren.“
„Nun, mit Verlaub, ich bin kein Kind. So sollte mir dieses Vergnügen wohl gestattet sein.“
Valentina schaltete sich ein. „Man muss eine Fahrschule besuchen. Dann bekommt man den Führerschein, und dann …“ Mit einem Schrei riss sie Dorian zurück, der sich, um einen Sturz abzuwehren, an ihr festklammerte. Um ein Haar hätte ihn ein Auto erwischt. Valentina blickte in seine schreckgeweiteten Augen und hielt ihn unwillkürlich fester. Der Junge erwiderte ihren Druck, sein Blick wurde weich und eindringlich. Er schien es nicht eilig zu haben, sich aus der unfreiwilligen Umarmung zu lösen. Valentina durchrieselte eine prickelnde Woge, etwas verheißungsvoll Unbekanntes, das sie nie zuvor gefühlt hatte. Für einen Moment standen sie da wie ein Doppelstandbild.
Phil unterbrach den magischen Augenblick. „Mann, Dorian! Schau, wenn das Licht da oben rot leuchtet, muss man stehen bleiben. Das ist eine Ampel!“
Dorian sah hoch und ließ Valentina mit einem schiefen Lächeln los.
Valentina schoss das Blut in die Wangen. Verdammt, bestimmt machte ihr Kopf der Ampel Konkurrenz!
Dorian hüstelte. „Pardon, verehrte Mademoiselle, verzeihen Sie Ihrem Diener das Missgeschick, das allein seiner Unwissenheit in den modernen Dingen anzurechnen ist!“
Eine Frau mit einem Kinderwagen, die auch auf Grün wartete, starrte sie neugierig an.
„Nimm ihn bei der Hand!“, zischte Phil. „Das ist das Sicherste!“
„Teuerste Mademoiselle“, sagte Dorian, der Phils Vorschlag gehört haben musste. „Ich bitte untertänigst um Geleit.“
Mit einem Ausdruck, der Valentina jeden Einwand unmöglich machte, bot er ihr die Rechte, die Valentina zögernd annahm. Seine Hand fühlte sich samten, aber so kalt an, als hätte er sie soeben aus Eiswasser gezogen. Obwohl Dorian größer war als sie, fielen sie schon nach den ersten Metern in den gleichen Schritt. Und für einen Moment überkam Valentina das verwirrende Gefühl, dass auch ihre Herzen im gleichen Takt schlugen.
Sie hatten Glück, Arnold hatte auch an diesem Wochenende seinen Arbeitsplatz der tristen Wohnung seiner Mutter vorgezogen. Nachdem er sich durch die Sprechanlage vergewissert hatte, wer da Einlass begehrte, ließ er sie durch die Hintertür ein.
Als Phil ihm noch im Treppenhaus genauer erklärte, was sie wollten, schob der untersetzte Mann die Brille auf den spärlich behaarten Kopf und rieb sich den Nasenrücken. „Ein Referat. Über das Treuenstein-Gymnasium. Da haben wir sicher was. Kommt mit!“
Während Valentina dachte, dass Arnold wie eh und je irgendwie sauer-muffig roch und dass dies zu ihm gehörte wie sein abgeschabter grauer Kittel, folgten die drei den schlurfenden Schritten des Bibliothekars in den Raum, in dem die ortsgeschichtlichen Dokumente aufbewahrt wurden.
„Wartet hier!“ Damit verschwand Arnold im Blätterwald. Als er zurückkam, zerrte er einen Bücherwagen mit einem gewaltigen Stapel hinter sich her. „Das dürfte fürs Erste genügen. – Ihr könnt es euch im Lesesaal gemütlich machen.“
Phil deutete mit einem nervösen Kopfnicken zum Schreibtisch seines Vaters. „Herr Arnold, ich hätte mir gern das Buch angesehen, das neulich aus dem Regal gefallen ist. Es liegt da drüben. Mein Vater meinte, es sei von Margareta Luisa von Treuenstein persönlich verfasst und noch nicht ausgewertet. – Sie ist doch die Gründerin der Schule. – Vielleicht finden wir darin etwas, das noch nicht allgemein bekannt ist.“
Mit gerunzelter Stirn bewegte sich Arnold zum Schreibtisch seines Vorgesetzten und nahm das Buch in Augenschein. „Das sind handschriftliche Aufzeichnungen, ein wertvolles Autograph.
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