Der letzte Weynfeldt (German Edition)
die Beine zu kommen. Aber diesmal fehlte ihm die Energie. Die Energie und der Optimismus. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich alt.
Bis vor kurzem war achtundsiebzig nur eine Zahl gewesen. Er wusste zwar, dass sie unter anderem die Anzahl Jahre bedeutete, die er schon auf der Welt war, aber sie hatte nichts damit zu tun, wie er sich fühlte. Er kannte viele Leute mit der gleichen Anzahl Jahre auf dem Buckel, und alle kamen ihm alt vor. Doch auf sich selbst bezogen war sie ohne Bedeutung. Der alte Mann, dem er, wenn es sich nicht vermeiden ließ, im Spiegel begegnete, hatte nichts mit ihm gemeinsam.
Aber eine lächerliche Grippe im vergangenen Winter hatte ihn niedergestreckt. Beinahe einen Monat war er bettlägerig gewesen mit immer neuen Fieberschüben, Schüttelfrostanfällen und Gliederschmerzen, die seinen ohnehin nicht mehr sehr agilen Körper bleiern und überempfindlich gemacht hatten. Er lag übellaunig im Bett und strapazierte die Geduld von Frau Almeida, bis sie allen Ernstes mit Kündigung drohte. Es gab Nächte, in denen er überzeugt war, dass er nie mehr auf die Beine kommen würde. In denen er über sein Leben nachdachte und merkte, dass es ihm nicht viel ausmachen würde, wenn es vorbei wäre.
Er genas zwar zu seiner eigenen Überraschung, aber er war nicht mehr derselbe. Der Elan war weg. Und mit ihm dummerweise auch das Geld. Was ihm blieb, war bei weitem nicht genug, um seinen Lebensabend so zu verbringen, wie er das geplant hatte.
Baier hatte sich schon vor ein paar Jahren in der Residenza Crepuscolo angemeldet, einem zur luxuriösen Seniorenresidenz ausgebauten Palazzo an den Ufern des Comersees. Er hatte dort Anrecht auf eine geräumige Zweizimmerwohnung mit Seeblick, die ausgerechnet jetzt, wo er sie sich nicht mehr leisten konnte, auf die für das Freiwerden von Plätzen in Seniorenresidenzen übliche Art frei geworden war. Sie würde ihn, Vollpension und alles inbegriffen, etwa hunderttausend Franken im Jahr kosten. Das hieß, es bliebe ihm mit etwas Glück genug Geld übrig für ein Jahr. Er machte sich zwar keine Illusionen, was seine Lebenserwartung anging – Bluthochdruck, Herzrhythmusstörungen, Prostata, Altersdiabetes, Arthritis und Hang zu ungesundem Leben –, aber mehr als ein Jahr gab er sich schon. Genau gesagt: etwa zehn.
Der Lebensabend bis zu seinem Achtundachtzigsten würde ihn in der Residenza Crepuscolo zwischen anderthalb und zwei Millionen kosten, einige Reisen, das ungesunde Leben und die dadurch steigenden Pflegekosten eingerechnet. Ziemlich genau so viel, wie er nach Abzug der Steuern aus dem Vallotton herauszuschlagen hoffte.
Ein kurzer Hustenanfall zwang Baier, die Havanna aus dem Mund zu nehmen und in den Aschenbecher zu legen. Er unterdrückte ihn mit der Routine eines Mannes, der fast sein ganzes Leben geraucht und fast sein halbes Leben gehustet hat. Dann nahm er einen großen Schluck Port. Nicht sein Lieblingsgetränk, nur sein Lieblingskompromiss zwischen etwas Vernünftigem und etwas Stärkerem.
Count Basie spielte »This Could Be the Start of Something Big«. Baier stemmte sich an den Armlehnen hoch und griff den Stock mit dem Elfenbeinknauf, der am nächsten Polstersessel lehnte. Er humpelte zur Staffelei, tauschte die Brille für die Weite gegen die für die Nähe und studierte das Werk von nahem.
Es gab wenige Dinge, die ihm so vertraut waren wie dieses Bild. Das in zwei vom Mittelscheitel getrennte Tollen hochgesteckte Haar der Frau, das sein Vater »kastanienbraun« genannt hatte. Die Wölbung der rechten Wange, die sich rötlich vom helleren Ton der übrigen Haut abhob und die ein junges, ovales Gesicht erahnen ließ. Der eng an den Körper gepresste rechte Arm, der vermuten ließ, dass die Frau trotz des Feuers fröstelte und die Arme unter den Brüsten verschränkt hatte. Der lila Unterrock, der bei näherer Betrachtung wie nachträglich dazugemalt aussah, um ein paar offenen anatomischen und perspektivischen Fragen auszuweichen. Wo waren die Unterschenkel? Wo die Fersen? Falls die Frau auf ihnen saß, warum sah man das den Pobacken nicht an? Der unmotivierte Glanz auf der hölzernen Kamineinfassung genau an der Stelle, wo sich das Rotbraun der Haare vom Braun des Holzes abheben musste. Der Gegensatz zwischen dem oberen Teil des flüchtig gemalten Paravents aus drei Tafeln, der im Spiegel über dem Kamin sichtbar war, und dem naturalistischen silbernen Cachepot auf dem Kaminsims. Die Stapel nur angedeuteter Gegenstände, die im
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