Der letzte Weynfeldt (German Edition)
Halbschatten des offenen Schranks zu erahnen waren. Tischwäsche? Skizzenblöcke? Schachteln mit Malutensilien?
Baier berührte das Bild mit den Fingerspitzen. Er kannte den Farbauftrag, den Pinselstrich, er wusste, wie sich die Oberfläche anfühlte, und er würde das Bild blind an seinem Geruch erkennen. Etwas, worauf er bei dem Tempo, in dem sich seine Sehkraft verschlechterte, vielleicht bald einmal angewiesen sein würde.
Die Neuenburger Pendule schlug sieben. In exakt fünfzehn Minuten würde er die Klingel hören und gleich darauf die Stimme von Frau Almeida, die Adrian Weynfeldt begrüßte. Denn Weynfeldt war ein pünktlicher Mann, wie es schon sein Vater gewesen war. »Die Höflichkeit der Könige« hatte dieser die Pünktlichkeit genannt und sie seinem Sohn eingebleut, den er gemeinsam mit seiner Frau in dem festen Glauben erzogen hatte, zwar kein König, aber ein Weynfeldt zu sein. Was einem König sehr nahe kam.
Baiers Vater hatte sich im Familienkreis oft lustig gemacht über den Standesdünkel, den die Weynfeldts pflegten. Dem armen Adrian war das Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein, dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass er mit übertriebener Höflichkeit jeden Verdacht der Überheblichkeit von vornherein zerstreuen wollte.
Lange hatte es ausgesehen, als würde der Vater als letzter Weynfeldt sterben. Bis dann seine Frau mit bald vierundvierzig den Nachzügler Adrian gebar, ein Triumph der Gynäkologie und der Genealogie.
Baier erinnerte sich an den kleinen Adrian, der bei den Einladungen der Weynfeldts – sie führten ein gastfreundliches Haus und gaben Diners und Empfänge im großen Stil – wie eine Trophäe vorgeführt wurde. Ein schüchternes Kind mit übergroßem Kopf und – schon damals – Maßanzügen. Im Sommer mit kurzen Hosen, im Winter mit Knickerbockers.
Er hatte das Kind aus den Augen verloren und erst am siebzigsten Geburtstag von Luise Weynfeldt wieder bewusst zur Kenntnis genommen. Das hieß, es war mehr seine Begleitung gewesen, die er zur Kenntnis genommen hatte: Eine rothaarige, grünäugige, weißhäutige Engländerin mit dem altmodischen Namen Daphne, eben die ernsthafte Beziehung, wegen der Adrian Weynfeldt sogar für über ein Jahr von zu Hause aus-und nach London gezogen war. Sie wäre auch Baiers »Kragenweite« gewesen, wie er sich zu vorgerückter Stunde nach dem Geburtstagsbankett in der Lisière ausgedrückt hatte, dem Lustschlösschen am Stadtrand, das der schon sehr kranke Sebastian Weynfeldt für den Anlass gemietet hatte.
Jetzt war Adrian der letzte Weynfeldt. Dem Vater war nicht vergönnt gewesen zu erleben, wie der Sohn den Fortbestand des Geschlechts sicherte. Und auch seiner Frau blieb dies versagt, obwohl sie sich nach dem Tod ihres Mannes noch beinahe zwanzig Jahre ans Leben geklammert hatte. Manchmal hegte Baier den Verdacht, Adrians Ehe-und Kinderlosigkeit sei seine Art, den Eltern heimzuzahlen, was immer sie ihm angetan haben mochten.
Oder vielleicht war er schwul. Nicht auszuschließen bei einem Junggesellen, der bei seiner Mutter lebte bis zu ihrem Tod mit vierundneunzig, sich mit schönen Dingen umgab und so viel Wert auf sein Äußeres legte. Trotz der sogenannt ernsthaften Affäre mit der englischen Kunststudentin. In welcher Schwulenbiographie gab es die nicht?
Baier konnte es egal sein. Adrian war ein angenehmer Gesellschafter mit guten Manieren, hilfsbereit und nützlich, Letzteres vor allem jetzt.
Er nahm das Bild von der Staffelei, trug es ohne Stock mit zusammengebissenen Zähnen zur Kommode und verglich es mit dem, das dort hing.
Perfekt. Alles stimmte. Sogar der Geruch.
Er schob das Bild in den schmalen Abstand zwischen Wand und Kommode. Genau in diesem Moment hörte er die Klingel und die Stimme von Frau Almeida, die Adrian Weynfeldt begrüßte.
4
Kaum hatte Weynfeldt den Finger von der Klingel genommen, öffnete Frau Almeida, Baiers portugiesische Haushälterin, auch schon die Tür.
»Boa tarde«, sagte Adrian, »como esta?«
»Tudo bem, obrigada«, antwortete Frau Almeida, und da sie wusste, dass sich damit Weynfeldts Portugiesisch erschöpft hatte, fügte sie auf Deutsch hinzu: »Er erwartet Sie im Salon.«
Fernanda Almeida führte seit Baiers letzter Scheidung seinen Haushalt. Sie war eine schlanke hochgewachsene Frau von etwa vierzig und lebte mit ihrem Mann und ihren neunjährigen Zwillingen in der kleinen Dienstbotenwohnung in Baiers Villa. Ihr Mann arbeitete als Schichtarbeiter in einer
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